Zweite Chance

In einer außergewöhnlichen Schule in Frankfurt können junge Suchtkranke ihren Abschluss nachholen. Viele brechen ab, manche verschwinden – einige schaffen es. Ein Jahr mit einer Abiturklasse

SZ Magazin, 15.9.2023

Vinzent bebt. Er wippt so schnell mit dem Fuß, dass sein ganzer Körper zittert. Er presst die Zähne aufeinander und starrt ins Leere, vorbei an seinen beiden Mitschülerinnen und dem Lehrer. »Vinzent?«, versucht es sein Lehrer. »Der Vertretungsplan ist nicht zutreffend«, presst Vinzent tonlos hervor. Dann sagt er harsch: »Ist jetzt auch egal.«

Auf dem Plan im Flur steht an diesem Tag im September 2022, dass der Unterricht am Freitag für Vinzent ausfällt. Er wollte wegfahren, zu Freunden, raus aus Frankfurt. Es ist alles schon geplant. Aber jetzt hat ihm sein Lehrer gesagt, dass die Stunden doch stattfinden. Für Vinzent bedeutet das eine Entscheidung: Entweder er verwirft die Pläne, die er für Freitag gemacht hat. Oder er verwirft das Ziel, das ihn jeden Morgen aus dem Bett bringt: Er will in zehn Monaten sein Abitur machen, ohne bis dahin eine einzige Fehlstunde zu haben. Das hat hier noch niemand geschafft.

Das Bildungszentrum Hermann Hesse, kurz BZH, ist eine Schule für Suchtkranke. Hier können diese ihren Schulabschluss nachholen, Haupt- und Realschulabschluss und das Abitur. Das Konzept ist einzigartig in Deutschland. Die jüngste Schülerin ist 16 Jahre alt, der älteste 37. Die Klassen sind klein, maximal zehn Schülerinnen und Schüler. Insgesamt gibt es 110 Plätze. Die Sucht derer, die hier landen, begann meistens im Kinderzimmer oder hinter der Turnhalle. Auf »nur mal probieren« folgten Wochenenden im Rausch. Nüchtern zu sein wurde zum Ausnahmezustand. Sie flogen von der Schule und dann aus dem System. Sucht kennt viele Wege: Sie führen ins Bahnhofsviertel. Ins Gefängnis. In eine Psychose. In den Tod. Jeder, der am BZH ankommt, ist statistisch gesehen eine Ausnahme. Trotzdem sind sie jetzt hier. Abstinent, aber nicht gesund. Sucht bleibt ein Leben lang. Und obwohl die Schule alles tut, um ihre Schülerinnen und Schüler zum Abschluss zu begleiten, verlassen in der Regel mehr von ihnen das BZH ohne Abschluss als mit. Wie schaffen es manche Schülerinnen und Schüler, gegen jede Wahrscheinlichkeit zu gewinnen?

Im September 2022 beginnt das neue Schuljahr. Die Schule liegt auf einer Anhöhe im Süden von Frankfurt. Der Weg hinauf ist steil, und als wäre das nicht schon symbolträchtig genug, steht der weiße Funktionsbau auf dem ehemaligen Gelände einer Brauerei. Im Eingang des dreistöckigen Gebäudes kleben Stundenpläne am schwarzen Brett und eine Aufforderung, für die Schülerzeitung Clean zu schreiben. An den hellen Wänden der Flure hängen Bilder aus dem Kunstunterricht. Stimmen wabern den Gang entlang. Viele Türen stehen offen. Es gibt keine Schulklingel. Es klappt ohne: Oft sitzen die Schüler pünktlicher als die Lehrer auf ihren Plätzen. Die meisten Räume sind klein. Vier, fünf Schulpulte, ein Lehrertisch. Riesige Klassenzimmer brauchen sie hier ja nicht.

Auf der Liste der Abiturklasse stehen neun Namen. Viele sind vor den Ferien mit Fachabitur abgegangen, andere wiederholen die zwölfte Klasse oder haben abgebrochen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass sie eigentlich nur noch zu siebt sind. Eine Schülerin und ein Schüler fehlen seit Beginn. Das kennt man hier schon.

Paula ist mit 21 Jahren die Jüngste der Abiturklasse. Sie fährt jeden Morgen mit dem Motorrad zur Schule und zappelt viel im Unterricht. Sie war 14 Jahre alt, als sie zuletzt eine normale Schule besuchte und zum ersten Mal eine Entgiftung machte. So wie alle Schülerinnen und Schüler, die in diesem Artikel vorkommen, heißt sie eigentlich anders. Zu ihrem Schutz verwenden wir Pseudonyme. Ihre echten Namen sind dem SZ-Magazin bekannt.

Amina ist 22 Jahre alt. Sie hat das strahlende Lächeln einer Ballkönigin und träumt davon, Psychologin zu werden. Die Drogen lösten bei ihr eine Psychose aus: Sie erkannte sich nicht mehr im Spiegel.

Tom ist 23 Jahre alt. Als seine Eltern sich trennten, fand er bei den Ultras des SV Darmstadt 98 eine neue Familie. Seine Tage bestanden aus Fußball, Drogen und Gewalt. Als er an die Schule kam, liefen gegen ihn fünf Strafverfahren. Jetzt will er nur noch als Sanitäter ins Stadion.

Valerie ist 24 Jahre alt. Sie entschuldigt sich bei ihren Mitschülern, wenn sie bessere Noten schreibt, und kümmert sich um die Pflanzen der Schule. Mit 17 war sie zum ersten Mal hier und gab synthetischen Urin bei den Kontrollen ab, damit ihr Rückfall unbemerkt blieb.

Vinzent ist 26 Jahre alt. Seine langen blonden Haare trägt er meistens zum Pferdeschwanz gebunden. Um seinen Hals hängt eine Kette mit einem goldenen Lebensbaum als Anhänger. Er war zwölf, als er am Tag einen Kasten Bier trank. Er schwänzte die Schule, sammelte Messer und fing an zu dealen. Als er 14 war, brachten ihn SEK-Beamte in die Jugendpsychiatrie, erzählt er. Er blieb ein halbes Jahr in der Geschlossenen. Kam ins Heim, ins Internat, flog kurz vor dem Abitur. Dealte mit Drogen. Cannabis, MDMA und Speed. Er konsumierte, was er verkaufte. Vinzent erzählt davon wie von einem Ferienjob als Eisverkäufer, und kann den Stolz nicht verbergen, wenn er sagt, dass er nie erwischt wurde.

Mit 23 Jahren beschloss er, sein Abitur am BZH nachzuholen. Weil er keine Wohnung fand, lebte er in einem Obdachlosenheim außerhalb der Stadt. Morgens fuhr er 45 Minuten mit der S-Bahn zur Schule. Nach wenigen Monaten trank er wieder. In die S-Bahn setzte er sich immer seltener. Noch bevor das Schuljahr vorbei war, brach er ab. Vor einem Jahr dann der zweite Anlauf. In der ersten Stunde sagte sein Mathe-Lehrer: »Euer Ziel sollte null Prozent Fehlquote sein. Aber das schafft keiner.« Vinzent entgegnete: »Wetten?« Seitdem hat er keine Stunde gefehlt. »Ein bisschen manisch«, sagen die Lehrer. Er sagt: »Ich musste dem Selbsthass etwas entgegensetzen.«

Zur Abiturklasse gehören im September 2022 neben den beiden, die gar nicht erst kommen, auch noch Susana und Lara, 21 und 29 Jahre alt. Im Laufe des Schuljahres werden sich beide dafür entscheiden, dass ihre Geschichten doch nicht Teil dieses Textes sein sollen. Bei der Abiturfeier im Juli 2023 werden sie fehlen.

All das ist an dem Mittwoch im September, an dem der Vertretungsplan für Vinzent nicht stimmt, noch weit weg. In einem Raum im Erdgeschoss haben sie Geschichte, bei Bernd Ennemoser, stellvertretendem Schulleiter, Geschichts- und Deutschlehrer.

»Bernd«, sagt Susana, während Vinzent immer noch mit dem Fuß wippt: »Ich habe nächste Stunde Therapie.«

»Schon wieder?«, fragt Bernd.

»Meine Therapeutin sagt, die Schule kann auch mal akzeptieren, wenn Therapie ist«, antwortet sie.

»Aber nicht immer im gleichen Fach«, sagt er und grinst.

Die Schüler und die Lehrer duzen einander. Es soll hier so wenig hierarchisch wie möglich zugehen. Mathe bei Boris, Englisch bei Julia, von manchen Lehrkräften kennen sie nicht mal die Nachnamen. In Geschichte bei Bernd geht es, nachdem die Fehlstunden geklärt sind, um die Anti-Hitler-Koalition. Vinzent hat darüber etwas in einem Buch gelesen. Dann schweifen sie ab. Bernd erzählt einen Schwank aus seiner Jugend im Münsterland. Und was sagt es eigentlich über Hitler aus, dass er Vegetarier war? Unterricht, als säße man in der WG-Küche.

Eine Schule, die denen einen Abschluss ermöglichen will, die es anderswo nicht geschafft haben, muss anders funktionieren als normale Schulen. Das beginnt damit, dass man jederzeit eingeschult werden kann. Müssten die Schülerinnen und Schüler warten, bis das nächste Schuljahr beginnt, würden die meisten bis dahin rückfällig. Die Schule hält die fest, die kommen. Dafür gibt es die Eingangsstufe. In die kommen alle. Ganz egal, wann im Jahr sie auftauchen, und ganz egal, ob sie in die neunte oder in die zwölfte Klasse gehören. Die Lehrkräfte wiederholen mit ihnen If-Sätze und binomische Formeln. Bei manchen beginnen sie mit den Grundrechenarten. Viele Lücken können sie füllen, andere nur notdürftig stopfen. Die Schülerinnen und Schüler lernen auch, wann sie sich einen Wecker stellen müssen, damit sie morgens pünktlich kommen. Und sie lernen etwas über sich selbst.

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