Ein Mann, eine Frau, ein Leben. Dann wird er gewalttätig. Eigentlich das Ende. Die Geschichte eines Paares, das mithilfe zweier Therapeuten seine Beziehung retten konnte
Von Christopher Bonnen und Julia Kopatzki
ZEIT Magazin Online, 10.05.2020
„Sehr geehrte Damen und Herren,
in meiner Ehe kam es zu einem Fall von häuslicher Gewalt – ich war in diesem Falle der Täter.“ 17. Februar 2017
Am Anfang kennen sie nur ihre Stimmen. Susanne arbeitet damals in einer kleinen Computerfirma. Als der Server eines Kunden Probleme macht und keiner weiter weiß, empfiehlt ihre Kollegin einen Bekannten, der sich genau damit auskennt. Susanne ruft ihn an. Sie findet seine Stimme sympathisch, stellt sich einen großen blonden Mann mit blauen Augen vor. Sie telefonieren lange. Arne kann ihr helfen, mag ihre Stimme sofort und glaubt seitdem an Liebe auf den ersten Satz. Sie telefonieren zwei Mal.
Kurz darauf lädt Susannes Kollegin den Bekannten mit der sympathischen Stimme zu einer Grillparty ein. Susanne ist auch eingeladen. Gemeinsam feiern sie den 1. Mai 2000. Nach der Grillparty ziehen Susanne und Arne mit ein paar anderen noch weiter.
Als sie nach Hause will, regnet es. Er fährt sie bis vor die Haustür, sie nimmt ihn auf einen Kaffee mit hoch. Im Schrank entdeckt er ein kleines Buch und liest ihr daraus vor, Aufzeichnungen eines Buchhändlers von Gérard Otremba. In dieser Nacht schlafen sie noch getrennt.
Arne Roth ist groß, hat dunkle Haare und volle Lippen. Er raucht E-Zigarette, trägt Brille und einen Ohrring. Susanne Lange ist gut zwei Köpfe kleiner und legt ihren meist bedächtig schief. Sie trug schon Kurzhaarfrisur, bevor das erste Grau kam. Eigentlich heißen sie anders. Als sie ihre Geschichte erzählen, sitzen sie vor dem Bücherregal, in dem er seine Bücher und Papiere stapelt und in dem sie ihren Teil nach Farben sortiert hat. Seit ihrem Kennenlernen sind fast 20 Jahre vergangen.
Damals sind beide 30 Jahre alt. Sie werden ein Paar, beginnen über die Zukunft zu reden. Susanne war schon mal verheiratet, nur kurz, noch mal brauche sie das nicht. Ein Kind wollen sie beide, fünf Jahre nach ihrem Kennenlernen kommt Nick auf die Welt.
Sie umarmen sich im Wohnungsflur, als Susanne leise zu Arne sagt: Na ja, du könntest mich ja auch mal fragen. Er braucht einen Moment, um zu verstehen. Dann fragt er noch im Flur, ob sie seine Frau werden will. Sie sagt ja. Und dass es ein wenig romantischer hätte sein können, erinnert sich Susanne heute.
An ihrem Geburtstag gehen sie schick essen. Er überreicht ihr eine Schatulle, darin ein iPod mit Videofunktion und ein Zettel: Stöpsel ins Ohr stecken, auf Play drücken! Er hat den zweiten Antrag auf Video aufgenommen. 2007 heiraten sie.
Sie streiten. Hin und wieder, mit der Zeit immer heftiger. Aus Kleinigkeiten machen sie Konflikte. Sie sagt, sie habe sich festgebissen. Er sagt, er konnte es nie gut sein lassen. Im Streit wärmen sie Altes auf, immer und immer wieder. Sie streiten und wissen später beide nicht mehr, worum es ging. Sie streiten, um zu gewinnen. So lange, bis die Erschöpfung kommt. Manchmal schläft einer von beiden auf der Couch.
Wenn sie nicht streiten, gibt es keinen Zweifel. Sie gehören zusammen. Eine Basis wie ein Fels, sagt sie. Wenn sie streiten, fallen sie vom Felsen. Er droht ihr mit Trennung, will immer wieder gehen. Du hast es geschafft, sagt er zu ihr. Ich will nicht mehr. Sie stellt sich ihm jedes Mal in den Weg. Sie lässt ihn nicht gehen.
Es muss irgendwann im Herbst 2016 sein, als sie wieder streiten, er wieder gehen will und sie sich ihm wieder in den Weg stellt. Er schubst sie. Ein blauer Fleck an der Schulter. „Nichts weiter“, sagen heute beide. Ein halbes Jahr vor dem Vorfall.