„Das war wie eine Jagd“

Nach einer Anti-Rassismus-Demonstration in Hamburg nimmt die Polizei 36 Menschen in Gewahrsam. Viele sind minderjährig, die meisten unbeteiligt. Was ist passiert?

ZEIT Hamburg, 07.06.2020

Bevor Leah sich auf den Weg zum Rathaus macht, sagt ihr Vater zu ihr: Pass auf, die verhaften Leute.

Es ist Samstag, der 6. Juni, in mehreren Städten in Deutschland demonstrieren an diesem Tag Tausende Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt, auch in Hamburg. Die erste Demo am Jungfernstieg beginnt um 14 Uhr, schon vorher ist es dort so voll, dass die U-Bahnen an mehreren Haltestellen einfach durchfahren. Der Tag der Demonstrationen ist auch ein normaler Samstag während Corona. 525 Menschen sind für die Versammlung genehmigt, es kommen 14.000.

Die Veranstalter hatten einen stillen Protest angekündigt. Mit Schweigeminuten und Plakaten, ohne Sprechchöre, alles sollte friedlich bleiben.

Weil die Kundgebungen am Jungfernstieg und auf dem Rathausmarkt viel zu groß sind, werden beide kurz nach ihrem Beginn für beendet erklärt. Die Teilnehmer bekommen davon nichts mit. Sie bleiben und hören sich Wortmeldungen an, sie rufen “ I can’t breathe “ und “ No justice, no peace „. Die Polizei duldet die Demonstration zunächst. Obwohl sie offiziell abgesagt ist, dürfen die Demonstrierenden bis 18 Uhr auf dem Platz bleiben. Die meisten tragen Mundschutz, nur der vorgeschriebene Abstand ist nicht immer möglich.

Zu den Demonstrierenden gehören Leah und ihre Freundin Andrea, beide sind 20 Jahre alt, haben vergangenes Jahr ihr Abitur gemacht. Sie kommen aus Hamburg, gehören zur schwarzen Community und heißen eigentlich anders. Wenige Stunden später gehören sie zu den 36 Menschen, die von der Polizei in Gewahrsam genommen werden. Auf Twitter gibt es viele Videos von ihnen: wie sie mit dem Gesicht zur Wand stehen und sich mit den Händen abstützen. Vor den jungen Menschen stehen mindestens ebenso viele Polizisten. Weder Leah noch Andrea wissen bis heute, warum sie festgehalten wurden.

Den Rathausmarkt hätten sie verlassen, als die Kundgebung um 18 Uhr vorbei war, erzählt Leah. Gemeinsam mit anderen, aber immer auf Abstand und darauf bedacht, nur in Zweiergruppen zu laufen. Immer wieder treffen sie Freunde, die sie lange nicht gesehen haben, sie sprechen über die Demo und darüber, wie es ihnen geht. „Wir waren länger in der Gegend“, sagt Leah, „aber nicht mehr auf dem Platz.“ Sie sehen, wie Flaschen fliegen und Vermummte an ihnen vorbeilaufen.

Als sie am Hauptbahnhof ankommen, ist es kurz vor 20 Uhr. Sie überlegen, wo sie essen gehen, ob beim Inder oder beim Türken. Immer wieder beobachten sie, wie Polizisten und Vermummte einander gegenüberstehen und aufeinander losgehen. „Das war wie eine Jagd“, sagt Leah und Andrea ergänzt: „Die Beamten sahen aus, als würde ihnen das Spaß machen. Die Geräusche klangen wie von wilden Tieren.“ Am Bahnhof angekommen überlegen sie noch, ob sie lieber den Umweg durch die Wandelhalle nehmen sollen, anstatt am Steintordamm entlang zu laufen, vorbei an den parkenden Polizeiautos. „Aber warum?“, sagt Leah. „Wir hatten ja nichts gemacht.“

Dann geht alles ganz schnell. Plötzlich sei überall Polizei gewesen, erzählen beide. Sie sehen, wie ein schwarzer junger Mann geschubst wird. Sie sehen, wie ein Freund mit einem Knüppel geschlagen wird. Sie sehen, wie die Polizei auch auf sie zurennt. Andrea steht mit einer Freundin zusammen, als ein Polizist sie gegen die Wand des Hauptbahnhofs schubst. „Wir haben die Hände hoch genommen und haben immer wieder gesagt, dass wir keinen Widerstand leisten“, erzählt Leah. „Trotzdem wurde auch ich zweimal geschubst.“

Innerhalb weniger Minuten stehen 39 Menschen mit dem Gesicht zur Wand, die Hände neben dem Kopf aufgestützt. Auf den Bildern und Videos sieht man, dass viele der Festgehaltenen sehr jung sind, minderjährig. Verschiedene Augenzeugen bestätigen das, auch Leah und Andrea. „Der Jüngste war 13“, sagt Andrea. Das bestätigt auch die Polizei.

Von der Demo kamen nur wenige. Mehrere Jungs trugen Einkaufstüten, sie sagten, dass sie nur im Supermarkt waren. Eine Frau sei von der Arbeit gekommen, ihr Freund habe sie abgeholt. Warum sie dort an der Wand stehen, sagt ihnen niemand. Als sie nachfragen, was jetzt passiert, heißt es: Keine Ahnung, Ansage kommt. „Wir können nicht ausschließen, dass irgendwo irgendjemand Krawall gemacht hat“, sagt Leah. „Aber wir haben nichts davon gesehen.“

Lange passiert nichts. „Eine männliche Stimme hat dann per Lautsprecher verkündet, dass die 39 Menschen in Gewahrsam genommen werden“, erzählt Leah. Kurze Zeit später lässt die Polizei drei Menschen gehen, die beteuert haben, wirklich nur einkaufen gewesen zu sein. Andere, die das gleiche sagen, mussten bleiben.

Eine Stunde stehen sie an der Wand, mit erhobenen Händen. „Ich habe irgendwann gefragt, ob ich mich hinsetzen darf“, sagt Andrea. „Ich konnte nicht mehr.“ Die Polizei kontrolliert Pässe, geht die Reihe herunter und macht von allen Fotos, mit und ohne Maske. Alles, was die Menschen dabei haben, müssen sie in Tüten verpacken. Das Handy eines Jugendlichen klingelt immer wieder, er darf nicht rangehen.

In der Zwischenzeit verbreitet sich die Nachricht, dass am Bahnhof Menschen festgehalten werden, schnell über soziale Netzwerke. Nicht alle Informationen, die sich dort finden, werden sich als wahr herausstellen. Am Hauptbahnhof versammeln sich unterdessen immer mehr Menschen vor den Beamten. Sie skandieren „Freilassen, freilassen“ und „Aussageverweigerung“.

Die vorgeschriebenen Sicherheitsabstände hält längst niemand mehr ein. Weder die Menschengruppe vor den Polizisten noch die Menschen an der Wand. In diesem Moment scheint dies völlig egal zu sein.

Angesprochen auf den Vorfall, verweist ein Sprecher der Hamburger Innenbehörde weiter an die Polizei – und auf die einzuhaltenden Versammlungsauflagen. „Die Menschen sollen ja demonstrieren. Aber der Abstand muss eingehalten werden.“ Die Polizei ist am Sonntag nicht zu erreichen, auch auf mehrfache Kontaktversuche über viele Stunden hin.

Zwei Polizeibeamte bringen Leah aufs Präsidium, sie weiß immer noch nicht, was ihr vorgeworfen wird. Sie muss sich bis auf die Unterwäsche ausziehen, wird fotografiert und in eine Einzelzelle gesteckt. Für vier Stunden, sagen sie ihr. Nach zwei Stunden, da ist es kurz vor Mitternacht, darf sie gehen.

Andrea muss länger an der Wand ausharren. Vereinzelt werden Menschen im Streifenwagen weggefahren. Dann kommen zwei HVV-Busse. Es ist kurz nach 22 Uhr, als die Polizei die verbliebenen 26 Menschen in die beiden Busse verteilt, beide fahren zum Polizeikommissariat 42 nach Billstedt, fast zehn Kilometer entfernt.

Die Stimmung im Bus war angespannt, erzählt Andrea. Die Polizisten hätten immer wieder gesagt, sie sollten aufhören zu reden. Das Handy eines Jungen klingelt ständig, die Handystimme verrät, dass es abwechselnd seine Eltern sind. „Er hat gefragt, ob er rangehen darf. Aber er durfte sein Handy nur ausmachen. Er war höchstens 16“, sagt Andrea. Auch sie darf niemandem Bescheid geben.

In Billstedt warten nur zwei Beamte. „Wir saßen bestimmt noch mal zwei Stunden im Bus“, sagt Andrea. Erst seien die 15-Jährigen aus ihrem Bus ins Präsidium geführt worden, dann die jüngsten Insassen des anderen Busses, immer abwechselnd, bis alle Minderjährigen raus waren. Auch Andrea wird ins Polizeikommissariat geführt, die Beamten fotografieren sie. Fünf Minuten später darf sie gehen.

„Die Beamten haben noch zu mir gesagt, ich soll möglichst schnell weggehen“, erzählt Andrea. Draußen hat sich in der Zwischenzeit eine kleine Gruppe versammelt, die auf die Menschen in Gewahrsam wartet. Als Andrea wieder frei ist, ist es 2 Uhr nachts. Sie fährt mit der Bahn zurück zum Hauptbahnhof. „Der Polizei war es egal, wie wir nach Hause kommen“, sagt sie.

Am Sonntag gibt die Polizei Hamburg eine Pressemitteilung zum Demogeschehen heraus: 36 Menschen seien in Gewahrsam genommen worden, weitere elf wurden vorläufig festgenommen, „denen zum Teil schwerer Ladenfriedensbruch (sic!), Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz und tätliche Angriffe auf Polizeibeamte vorgeworfen werden“. Unter den 47 Menschen sind 20 Minderjährige. Bei ihrer Freilassung erfahren Leah und Andrea, ihnen werde nichts vorgeworfen.

„Ich wollte unbedingt demonstrieren, um darauf aufmerksam zu machen, dass Polizeigewalt gegen schwarze Menschen nicht nur in den USA passiert“, sagt Leah. „Und jetzt bleibt so ein komisches Gefühl.“ Beide hatten vorher noch nie Kontakt mit der Polizei. „Wir waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Und es war so eine Zeitverschwendung“, sagt Andrea. Beide kennen noch eine Handvoll Menschen, die auch festgehalten wurden. Bei jedem lief es ein bisschen anders ab. „Wenn sie doch nach irgendeiner Vorschrift handeln, warum ist es dann nicht gleich?“, fragt Andrea. Beide erzählen sehr gefasst davon. „Das war krass, aber ich habe auch noch Würde“, sagt Leah. Und Andrea: „Wir erleben als Schwarze in Deutschland schlimmere Dinge.“

Ein Polizist habe ihr gesagt, dass sie jetzt immerhin eine gute Partygeschichte zu erzählen habe, sagt Leah. Sie wollte ihren Eltern erst nicht erzählen, dass sie von der Polizei festgehalten wurde. Als sie es doch tut, sagt ihr Vater: Siehst du.