The Fest and the Furious

In Goa veranstaltet der Motorradhersteller Royal Enfield die Rider Mania – ein Festival zum Bikes-Huldigen und Biersaufen. Mit dabei: Frauen, die die indische Gesellschaft verändern wollen

BUSINESS PUNK, 01.02.2020

Der Anfang ist ein Klischee. Staub wirbelt durch die Luft, als die Biker hupend das Festival erreichen. Tibetische Gebetsfahnen wehen im Fahrtwind, als wäre man irgendwo im Himalaja, und obwohl es wirklich laut ist, trottet eine Kuh durchs Bild.

Es ist 12 Uhr am Mittag, und die ersten Bierflaschen klirren. So weit, so erwartbar von einem Festival, das Rider Mania heißt.

Dass dieses Festival dann aber doch kein Klischee wird, dafür wollen zwei Menschen sorgen, die miteinander wenig zu tun haben: Vinod Dasari, der neue CEO, der aus der legendären, aber eher unökologischen Motorradmarke Royal Enfield einen grünen Konzern machen will. Und Hema Choudhary, die ab jetzt zwei Tage Zeit hat, um so viele Frauen wie möglich um sich zu versammeln. Dasari will kein Plastik mehr, Choudhary kein Patriarchat.

Kurz bevor der Sommer über den Süden Indiens hereinbricht, kommen an einem Wochenende im November 8 000 Biker in Goa zusammen. Ein Klassentreffen für Royal-Enfield-Fans. Die älteste Motorradmarke der Welt, Sitz und Produktion im indischen Chennai. Und das Festival zieht die Menschen aus allen Ländern der Erde an.

Die Sonne steht senkrecht am Himmel und bricht sich tausendfach im Chrom der Maschinen, die auf dem fußballfeldgroßen Parkplatz stehen. Mit lautem Gehupe und durchdrehenden Motoren fahren immer mehr Biker ein. Sie kommen aus Pune, 400 Kilometer entfernt, aus Bangalore oder Mumbai, je 600 Kilometer entfernt, aus Delhi, 1 800 Kilometer entfernt. Manche sind am Montag losgefahren, damit sie jetzt, am Freitag, in Goa sein können. Natürlich mit dem Motorrad.

Vor den Zäunen des Parkplatzes vernebelt roter Staub die Sicht und legt sich auf die schwitzenden Zuschauer. Es ist ein karges Feld ohne einen Zentimeter Schatten, auf dem die Biker die nächsten drei Tage zeigen, was sie aus ihren Maschinen rausholen können. Zwei junge Männer in gelben Warnwesten sprenkeln unaufhörlich Wasser auf die Rennstrecke, doch es nützt nichts. Es sind 36 Grad, und als die ersten Motorräder starten, gleicht die Luft einem Red-only-Holifestival. Hier fährt, wem es egal ist, dass sein Motorrad mit anderen zusammenstößt, die Furchtlosen, die erst im letzten Moment die Kurve nehmen, die mehr Herausforderung erwarten als asphaltierte Straßen und Tempo-30-Zonen.

Man muss sagen, dass es in Indien zunächst vor allem praktisch ist, auf zwei statt vier Rädern unterwegs zu sein. Wo Autos stecken bleiben, kommt man hindurch; die Kühe, die tatsächlich überall herumstehen, kann man elegant umfahren. Wer in Indien zum ersten Mal auf ein Motorrad steigt, dem sagen sie: „No rules. Just use the space.“ Gerne drängeln und schlängeln, aber niemanden berühren.

Motorrad fahren heißt aber auch, es sich leisten zu können. Die meisten Inder fahren Roller, manche konnten ein Motorrad aus zweiter Hand ergattern. Die Ärmsten haben ein Fahrrad – oder nur ihre Füße. Fahren ist Freiheit, aber eben nicht Wind im Haar und sich irgendwie selber spüren, sondern die Möglichkeit, sich zu bewegen, es raus zu schaffen aus den Orten ohne öffentliche Verkehrsmittel. Eine Royal Enfield beginnt bei 100 000 Rupien, knapp 1 300 Euro. Für die meisten unbezahlbar.

Im Norden Indiens, in der Nähe von Jodhpur steht an einem Highway ein Schrein für eine Royal Enfield Bullet: Ihr Fahrer starb an dieser Stelle, die Polizei stellte das demolierte Motorrad sicher, doch irgendwie, so erzählt man sich, kehrte die Bullet immer wieder an den Unfallort zurück. Heute steht sie dort in einem Glaskasten. Täglich kommen Hunderte, legen Blumen ab und beten für eine sichere Reise.

Jedes Jahr sterben in Indien fast 300 000 Menschen bei Verkehrsunfällen, so viele wie nirgendwo sonst. Fahren kommt hier von Gefahr. Wer auf sein Motorrad steigt, der hofft. Der errichtet Tempel für Motorräder und fürchtet schwarze Katzen.

Auf der anderen Seite des Parkplatzes, im Hill Top, feiern normalerweise Auswanderer Räucherstäbchen-Trance-Partys, aber dieses Wochenende ist der Outdoorclub das Epizentrum der Biker, die lieber saufen als fahren wollen – oder denen es herzlich egal ist, wenn sie beides tun.

Haushohe Palmen spenden Schatten, neben der Bar reihen sich Streetfood-Stände aneinander, und vor der großen Bühne blasen Ventilatoren kühlen Nebel in die Menge. Das Klischee der gefährlichen Biker kennt hier niemand. Motorradclubs sind hier ein bunter Zusammenschluss junger Männer, die gemeinsam durch ihre Heimatstädte brettern und Touren durchs Land machen. Manche haben auch ein paar Frauen als Mitglieder, meist die Ehepartnerinnen. Statt Lederkutte tragen sie bunte Baumwollshirts als Erkennungszeichen. Lange Haare, schmale Brillen, Tattoos und dicke Silberringe sucht man hier vergeblich. Stattdessen Männer in traditionellen Wickelröcken, Frauen in prächtigen Saris. Ein Club trägt statt Helm kunstvoll gebundene Turbane in den Farben Indiens.

Der Biercontest der Männer beginnt. Die Frauen sind morgen dran, jeder Wettbewerb ist streng geschlechtergetrennt. Das Publikum drängt an den kleinen Tisch, hinter dem sich die ersten vier Männer aufreihen, vor ihnen je eine Flasche Bier. Der Schiedsrichter erklärt die Regel: „Die leerste Flasche gewinnt, nicht der schnellste Trinker. Und das Bier nicht verschütten.“ Alle nicken und setzen an. Nach 15 Sekunden steht die erste Flasche wieder auf dem Tisch, der Boden ist voller Schaum. Der nächste gießt sich das Bier mehr auf als in den Hals, einer nuckelt an der Flasche wie ein Baby, und der vierte schiebt die Zunge immer wieder in die Öffnung. Als alle Flaschen wieder stehen, dreht der Schiedsrichter sie um und zählt die Tropfen. Der Nuckler gewinnt. So geht das Runde für Runde. Erst im Viertelfinale hat wirklich jeder verstanden, dass es nicht um Schnelligkeit geht. Arwin aus Mumbai gewinnt, so wie letztes und vorletztes Jahr. Bei der Siegerehrung brüllt er den Himmel an, reißt die Arme in die Luft, seine Hände formen Teufelshörner. Ein kleines bisschen Rock ’n’ Roll und zur Schau gestellte Männlichkeit, bevor der DJ „Despacito“ spielt und alle wieder tanzen.

Am Abend betritt der neue CEO von Royal Enfield die Bühne im Hill Top. Vinod Dasari trägt Schnauzer und rahmenlose Brille, sein khakifarbenes T-Shirt steckt in der grauen Anzughose. Es ist seine erste Rider Mania. Dasari soll ein neues Modell enthüllen, doch zunächst will er über Nachhaltigkeit sprechen: „Dieses Jahr gibt es keine Plastikflaschen mehr auf der Rider Mania“, ruft er. Das Publikum jubelt. „Wir recyceln!“ Jubel. „Royal Enfield heißt: Hinterlasse jeden Ort besser.“ Noch mehr Jubel. Trinkwasser kann man sich nur in die eigene Flasche nachfüllen lassen, es gibt zweierlei Mülleimer, und junge Männer laufen mit Müllsäcken über das Gelände, um hinter denen aufzuräumen, denen die Umwelt nach sehr viel Bier dann doch egal ist.

Die Besucher wissen, wie privilegiert sie sind. Sie berichten einander in Pecha-Kucha-Talks davon, wie sie Computer für Schulen gespendet haben, zu denen sie mit ihren Motorrädern gefahren sind, oder wie viel Geld sie mit ihren Touren sammeln. Biker-Clubs sind in Indien eher Wohltätigkeitsvereine.

Nach der großen Enthüllung des neuen Motorrads verschwindet der CEO von der Bühne, der DJ dreht die Musik wieder laut, und tausend Biker tanzen zu „Everybody“ von den Backstreet Boys.

Am nächsten Tag ist es noch heißer, und die Biker sind noch durstiger. Vor dem Zaun startet ein Rennen nach dem nächsten, doch das heimliche Highlight auf der anderen Seite beginnt: Die Frauen treten gegeneinander im Biertrinken an. Auf der Rider Mania gibt es nur wenige Frauen, dafür nehmen aber fast alle an allen Wettbewerben teil. Die Männer strömen zur Bühne. Handys, Selfiesticks und GoPros gehen in die Luft, das Publikum johlt. Die Frauen sind die Aufmerksamkeit gewohnt. Sie kriegen sie jedes Mal, wenn sie auf ihren Motorrädern sitzen. Da ist Pina, im gold-grünen Sari, eine bierexende Königin. Die Frauen von Bikerni, dem ersten Motorradclub nur für Frauen in Indien. Sarabi, die den dritten Platz macht und schnell noch eine Rede hält: „Ich danke meinem Mann, der auf die Kinder aufpasst, damit ich hier sein kann.“ Als sie spricht, haben sich die meisten Männer schon wieder ihren Bieren zugewandt, nur die Frauen klatschen anerkennend.

Laut Studien ist Indien das für Frauen gefährlichste Land der Welt. Weibliche Föten werden viel öfter abgetrieben als männliche. Mädchen bekommen seltener Zugang zu Bildung, und die Mitgift, obwohl sie gesetzlich verboten ist, treibt die Familien der Bräute bis heute in die Schulden. Männer entscheiden und regieren, Frauen werden belästigt und vergewaltigt. Royal Enfield hatte einst das passende Motorrad für diese Gesellschaft, das Modell hieß tatsächlich Machismo. 2009 wurde die Produktion eingestellt, der Motor war zu laut.

Zwei Tage lang hat Hema Choudhary mit den Frauen auf dem Festival gesprochen, hat sie eingeladen. Die Frauen auf der Rider Mania gehören zur Oberschicht, haben Zugang zu Bildung, arbeiten. Sie fahren Motorrad. Choudhary arbeitet für Royal Enfield und trainiert andere im Fahren abseits der Straßen. Ihre Veranstaltung am Sonntagmittag steht nicht auf dem Programm, der Ort, das Garage Café, ist 25 Minuten vom Festivalgelände entfernt. Unabsichtlich landet hier niemand.

Ein Ventilator so groß wie ein Traktorrad rotiert über den Köpfen der Bloody Mary trinkenden Cafébesucher, während Choudhary im einzigen geschlossenen Raum in der ersten Etage ein Schild an die Tür klebt: Women only. Als es losgeht, sind 50 Frauen gekommen. Sie wollen über ihre Erfahrungen sprechen. Auf dem Motorrad und mit Männern.

Jai spricht als Erste, eine kleine Frau mit dunklen Locken. Als sie neun Jahre alt war, setzte ihr Vater sie zum ersten Mal auf ein Motorrad. Sie gehört zu den Bikernis, hat den Frauenclub mitgegründet, doch heute trägt niemand Clubshirt. Sie erzählt von ihrem Trip nach Vietnam, 7 000 Kilometer auf dem Motorrad, zusammen mit zwei Frauen, die vorher noch nie mehr als 200 Kilometer gefahren sind. „Es ist gefährlich für Frauen auf den Straßen“, sagt sie. „Also lasst uns zusammen fahren.“ Die Fahrt brachte Jai so viel Aufmerksamkeit ein, dass Premierminister Narendra Modi sie danach zu einem Treffen einlud.

Anita überragt die anderen Frauen im Raum: Sie ist über 1,80 Meter groß, kommt im Pink-Floyd-Shirt und mit roter Bauchtasche nach vorne. Dieses Jahr hat sie an „Miss India Curvy“ teilgenommen, sie leitet Touren durch den Himalaja – nur für Frauen. „Wir alle wollen nach Leh“, sagt sie und meint die Stadt im Gebirge mit türkisem Wasser und Bergpanorama. Sie habe in einem Café in Delhi gesessen und einem Mann von ihrem Traum erzählt. „Er hat mich ausgelacht“, sagt sie, und ihr Gesicht wird hart. „Also bin ich losgefahren.“ Sie zeigt ein Foto von sich und ihrem Ehemann in Leh. Stolz blickt sie ins Publikum. Ein junges Mädchen, gerade 18 Jahre alt, meldet sich: „Als ich angefangen habe, Motorrad zu fahren, habe ich ,Female Rider‘ gegoogelt“, sagt sie. „Und ich habe Anita gefunden. Du bist so eine Inspiration!“ Alle klatschen.

Abhinaya spricht über nachhaltiges Reisen, über Menstruationstassen statt Tampons. Vishakha, eine 26-jährige Youtuberin, die sich bei ihren Touren filmt, hat heute 400 000 Abonnenten. Am Anfang erfuhr sie vor allem Hass: „Von Männern und Frauen“, betont sie. Sie fährt eine andere Marke, doch das ist egal. „Bei uns Frauen geht es nicht um die Marke“, sagt Choudhary, die den Impact von ihrer Rolle bei Royal Enfield trennt.

Majiree ist eine der älteren Frauen im Raum. Sie spricht darüber, wie es war, vor 25 Jahren die erste Bikerin ihres Dorfes zu sein. „Das Motorrad hat mir das Selbstbewusstsein gegeben, mein Leben selbst zu bestimmen“, sagt sie. „Ich habe bestimmt, wen ich heirate und wann ich Kinder bekomme.“ Ihre Tochter Gargi steht neben ihr. Mit 18 gab Majiree ihr den Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben: den Schlüssel für ihre alte Royal Enfield.

Die letzte Rednerin ist Archana. Sie ist taub, hat gelernt, Lippen zu lesen und zu sprechen. Ihr ist egal, wie laut der Auspuff röhrt, wie viel gehupt wird. Für sie ist ihr Motorrad der friedlichste Ort der Welt. Sie wird mit einer anderen tauben Frau von Bangalore nach Portugal fahren, 25 000 Kilometer. Alle hören gebannt zu. Am Ende ihres Vortrags formt Archana ihre rechte Hand zu Teufelshörnern: „In Gebärdensprache heißt das ,Ich liebe dich‘.“ Hundert Hände formen die Geste. Sie lachen und rufen: „Strong women support strong women!“ Choudhary verspricht: „Nächstes Jahr stellen wir uns auf die große Bühne.“ Sie recken die Teufelshörner in die Luft. Durch die Fenster schauen die Männer herein. Von außen sieht die Revolution aus wie Rock ’n’ Roll.