Sie wurde wegen der Krankheiten ihrer Kinder als tapferste Mutter Deutschlands gefeiert. Jetzt steht sie vor Gericht – weil sie alles Leid erfunden haben soll
DIE ZEIT, Recht & Unrecht, 07.11.2019
Wer früher von Maike B. und ihrer Familie hörte, hatte folgende Fragen: Wie schafft diese Mutter das nur? Wie viel kann eine Familie aushalten? Heute gibt es ganz andere Fragen: Wie kann eine Mutter nur so etwas Schreckliches tun? Und warum hat keiner was gemerkt?
Als Maike B. noch die tapfere Mutter war, erzählte sie in Talkshows von ihrem Schicksal, saß im SWR -Nachtcafé, bei Stern TV, bei Markus Lanz. Diese Geschichte geht so: Maike B. und ihr Mann haben fünf Kinder, zwei Mädchen, drei Jungen. Die Älteste ist heute 27 Jahre alt, der Jüngste elf. Die Familie lebt an der Ostsee, eine Viertelstunde vom Meer entfernt. Nach zwei Mädchen kommt 2002 Max (alle Vornamen der Kinder wurden geändert) auf die Welt, er hat eine Wachstumsstörung der Hüfte, muss im Rollstuhl sitzen. Seine beiden kleinen Brüder sind gesund.
2009 muss Max an der Hüfte operiert werden. Kurz vor der Operation trifft Maike B. den behandelnden Arzt, erzählt ihm, dass sie sich Sorgen mache. Der Todestag ihrer Tante nähere sich, diese sei beim Einsetzen einer künstlichen Hüfte verblutet. Der Arzt überprüft den Jungen erneut und stellt fest, dass er das Von-Willebrand-Syndrom hat: Er ist Bluter. Wunden verheilen schlecht, ein Schnitt kann stundenlang bluten, immer wieder kommt es zu blauen Flecken. Weil die Krankheit erblich ist, wird die ganze Familie überprüft. Maike B. und ihr Mann sind Bluter, alle Kinder auch. Sie müssen Medikamente nehmen.
Als würde das nicht schon reichen, stellt sich heraus, dass die drei Söhne und die Tochter Maja noch eine Form der Glasknochenkrankheit haben. Ihre Knochen brechen viel leichter als bei gesunden Menschen. Die Kinder bemerken die Brüche oft nicht, klagen nicht über Schmerzen. Doch Aufnahmen zeigen allein beim kleinen Milo über zwanzig Brüche. Damit die Knochen nicht noch öfter brechen, müssen die drei Söhne von nun an im Rollstuhl sitzen. Ihre Form der Krankheit ist schwerer als die der Schwester. Sie dürfen laufen, aber nicht zu viel, höchstens 100 Schritte am Tag, empfehlen die Ärzte. Oft reicht es nicht mal für den Weg über den Schulhof.
Trotz allem nimmt Maike B. 2011 ein Pflegekind bei sich auf: Moritz. Der Säugling ist von Geburt an schwer körperlich und geistig behindert. Sie hat die Kraft, die andere Mütter nicht haben.
Die Kinder müssen zu vielen Ärzten, werden untersucht und überwacht. Dann die nächste Diagnose: juvenile Arthritis. Maja und ihre Brüder haben Kinderrheuma. Steife Gelenke, Schmerzen, Schwellungen. Noch mehr Medikamente. Wie sollte man bei all den ärztlichen Kontrollen auf die Idee kommen, dass da etwas nicht stimmt?
Vier schwer kranke Kinder und ein Pflegekind. Stern TV besucht die Familie 2014 zu Hause. Der Beitrag beginnt so: Die vier Kinder sitzen um den Küchentisch versammelt, die Söhne im Rollstuhl. Maike B. holt zwölf Packungen eines Medikaments für Bluter aus dem Kühlschrank, jedes Kind bekommt seine Ration. Gemeinsam ziehen sie die Spritzen auf, die ihnen die Mutter dann setzt. »Es kostet jedes Mal Überwindung«, sagt Maike B. »Es tut mir, glaube ich, jedes Mal genauso weh wie der Piks, den die Kinder kriegen.« Der achtjährige Mark beginnt zu weinen, schlägt sich die Hände vor das Gesicht. Liebevoll umarmt sie ihren Sohn von hinten, streicht ihm die Haare aus der Stirn. Eine Mutter, die für ihre Kinder zurücksteckt. Die Haare notdürftig gekämmt, ihre Kleidung erfüllt ihren Zweck. Wenn sie über ihre Kinder spricht, meint man zu sehen, was Mutterliebe bedeutet. Nur die Rollstühle verraten, dass die Kinder krank sind. Sie spielen, sie lachen, haben rote Wangen. Die 13-jährige Maja sagt: »Die Leute sollen einfach begreifen, dass wir auch normal sind und dass wir halt damit leben.«
Trotz vier kranker Kinder arbeitet Maike B. – als Tagesmutter kümmert sie sich um vier weitere Kinder. Sie ist gelernte Erzieherin und Bademeisterin. Zweimal die Woche leitet sie einen Schwimmkurs für Kinder mit und ohne Behinderung. Die anderen Mütter sagen, sie seien ihr sehr dankbar. »Das bin ich«, sagt Maike B. im Beitrag von Stern TV. »Ich bin mit Kindern, Kinder sind mit mir.«
Das ist die Botschaft, die sie in vielen Medien erzählt: was für eine bewundernswerte Familie, die sich durch nichts unterkriegen lässt.
Seit Ende August dieses Jahres steht Maike B. in Lübeck vor Gericht. Ihr werden Misshandlung Schutzbefohlener in vier Fällen und gewerbsmäßiger Betrug vorgeworfen. Der Vorwurf lautet: Maike B. soll alle Krankheiten ihrer Kinder vorgetäuscht haben. Maja, Max, Mark und Milo sind gesund. Sie brauchen keine Medikamente und auch keinen Rollstuhl.
Im immer gleich aussehenden Blümchenoberteil sitzt Maike B. vor Gericht. Der graue Haaransatz ist sichtbar, sie wirkt abgekämpft, hart. Was passiert ist, muss das Gericht durch Akten, Zeugen und Gutachter klären. Maike B. schweigt.
Wie es scheint, haben die Lügen begonnen, als Max wieder gesund war. Die Hüftoperation 2009 verlief gut, bald hätte er den Rollstuhl nicht mehr gebraucht, und das Pflegegeld für das Kind wäre weggefallen. Maike B. beginnt zu Ärzten zu fahren, immer und immer wieder. Zu den Kinderärzten im Ort, nach Hamburg, nach Hannover, nach Kiel und Bad Bramstedt. Es ist, als fahre sie so lange zu Ärzten, bis sie einen findet, der ihr sagt, was sie hören möchte: Ihre Kinder sind krank.
Sie findet den ersten: Dr. Franz Müller (Name geändert). Er bestätigt ihr, dass alle vier Kinder Bluter seien, und verschreibt Medikamente, zur Vorbeugung. Die Spritzen, die die Kinder am Küchentisch bekommen, kosten die Krankenkasse insgesamt über eine Million Euro. Der Arzt, der als Zeuge vor Gericht aussagt, hält bis heute an seiner Diagnose fest. Zwar seien die Laborwerte grenzwertig gewesen, sagt er, doch aufgrund der anderen Krankheiten komme das schon hin.
Der Prozess-Sachverständige sagt, die Kinder seien keine Bluter. So wie schon andere Ärzte vor ihm. Der Hausarzt sagt heute, er habe sich gewundert, aber könne doch nicht schlauer sein als ein Spezialist.
Ab 2010 muss nicht nur der eigentlich wieder gesunde Max erneut im Rollstuhl sitzen, sondern auch sein jüngerer Bruder Mark. Beide Kinder haben nun Pflegestufe 1, jeden Monat erhält Maike B. knapp 500 Euro Pflegegeld. Sie legt dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen, der über eine Pflegestufe entscheidet, Dokumente vor, die die Krankheiten der Kinder belegen sollen. Ab 2013 muss auch der jüngste Sohn Milo im Rollstuhl sitzen. Sie beantragt eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst, der auch bei Milo eine Pflegestufe feststellt.
Ende 2013 findet Maike B. einen weiteren Arzt, der ihr hilft. Es ist der umstrittene Mediziner Paul Berger (Name geändert), dessen Praxis im 90 Kilometer entfernten Bad Bramstedt liegt. Er ist auf Rheuma bei Kindern spezialisiert. Erst bringt sie Milo zu ihm, dann Max, danach Mark und Maja. Die Kinder klagten alle, so sagt Berger vor Gericht, über Gelenkschmerzen, Kopfschmerzen und steife Gelenke am Morgen. Die Mutter legt ihm drei Arztbriefe des Medizinischen Versorgungszentrums Kiel vor. Darin berichten Ärzte von den anderen Erkrankungen der Jungen: Glasknochen, Bluterkrankheit, Allergien. Berger stellt die Diagnose: juvenile Arthritis bei allen vier Kindern.
Bis heute hält er an seinen Diagnosen fest. Als die Richterin ihm mehrere Befunde anderer Ärzte aus den Jahren 2013 bis 2015 vorliest, die allesamt schreiben, dass bei den Kindern keine eindeutigen Zeichen für eine rheumatische Erkrankung vorlägen, wirft er ihr vor, immer nur die negativen Beispiele herauszusuchen. Kritisiert zu werden ist für Berger nichts Neues – 2016 berichtete unter anderem der Spiegel über ihn: Er soll auffällig oft Rheuma diagnostiziert haben, Diagnosen, die in den seltensten Fällen einer Zweitmeinung standhielten. Eltern und Kinder warfen ihm vor, er habe ihnen Angst gemacht, andere Familien feiern den Arzt als großen Heiler, der dann Rat weiß, wenn alle anderen ratlos sind. Wie auch den Kindern von Maike B. soll er vielen Patienten Infusionen verschrieben haben, sogenannte Biologika, die stark ins Immunsystem eingreifen. Die Wirkung ist umstritten, teilweise waren die Medikamente nicht für Kinder zugelassen. Milo ist seitdem anfälliger für Infekte. Eine Nebenwirkung.
Der Prozess-Sachverständige legt sich fest: Die Kinder haben kein Rheuma.
2014 wechseln die Söhne von Maike B. die Schule, sie sollen alle drei an die gleiche Schule im Ort gehen. Schon bei der Anmeldung habe die Mutter einige Arztbriefe und Atteste dabeigehabt, erinnert sich der Schulleiter. Sie setzt durch, dass ein Aufzug eingebaut wird und die Schule barrierefrei wird. Immer wieder gab es Gespräche mit Maike B., meist sei es darum gegangen, dass die Lehrer nicht vernünftig mit ihren Kindern umgingen. Sie habe häufig angerufen, um mitzuteilen, dass einer ihrer Söhne am nächsten Tag nicht kommen werde. Sie sei auf dem Weg zu einem Spezialisten. Im zweiten Halbjahr des Schuljahres 2015/16 fehlt der 13-jährige Max 106 Tage, der zehnjährige Mark 53 Tage und der siebenjährige Milo 31 Tage. Mark kann in der dritten Klasse noch nicht richtig lesen, Milo wird von der zweiten in die erste Klasse zurückgestuft.
Maike B. hat dafür gekämpft, dass jeder ihrer Söhne eine Schulbegleiterin bekommt, die darauf achtet, dass sie nicht mehr als erlaubt gehen, die das Schreiben abnimmt, weil es schädlich für die rheumakranken Hände sei. Den Schulbegleiterinnen von Mark sagte sie, sie sollten darauf achten, dass er seinen Kopf nicht nach hinten strecke. Er habe eine Fehlstellung im Halswirbelbereich, durch Überstreckung könne er sterben.
Auch Maja musste die Schule wechseln und ab 2015 im Rollstuhl sitzen. Ihre Mutter sagte ihr, ihre Halswirbel würden sich versteifen, eine falsche Bewegung, und sie wäre querschnittsgelähmt. Trotzdem musste sie nach der Schule immer wieder im Haushalt helfen, sich um ihre jüngeren Brüder kümmern und um die Tageskinder der Mutter. Sie fühlt sich gesund, doch ihre Mutter sagt etwas anderes. Das Mädchen wird depressiv, beginnt sich zu ritzen.
Maja ist es, die sich 2016 dem Jugendamt anvertraut. Ungefähr zur gleichen Zeit wenden sich auch Nachbarn an das Jugendamt: Schon lange komme es ihnen seltsam vor, dass die Kinder vormittags im Rollstuhl säßen und nachmittags über die Straße oder durch den Garten tobten. Und auch der Schule der Jungen kommt ein Arztbrief seltsam vor: Rechtschreibfehler und eine Bemerkung, dass die Schule der Mutter bei der Einschätzung der Krankheiten vertrauen solle. Sie wenden sich an die Schulaufsichtsbehörde.
Der Arztbrief ist gefälscht. Immer mehr Dokumente stellen sich als falsch heraus. Ärzte, die es nicht gibt, gefälschte Unterschriften. Plötzlich wollen sich viele schon länger gewundert haben. Der Hausarzt, der sich nicht traute, die Diagnose eines Spezialisten anzuzweifeln. Die Schule, die nicht die tapfere Mutter infrage stellen wollte. »Was, wenn wir nicht recht gehabt hätten?«, sagt der Schulleiter. 2017 schreibt Maja Stern TV eine Nachricht: »Meine Mutter war die Supermutter, die 5 ›schwerkranke‹ Kinder hat. Doch wir sind nicht krank. Wir sind kerngesund und ich würde gerne diese Lüge aus der Welt schaffen.«
Als der Zweifel zum Verdacht wird, werden alle vier Kinder und das Pflegekind aus der Familie genommen. Sie kommen in Pflegefamilien und in ein SOS-Kinderdorf. Immer wieder laufen die Jungen weg, zurück zu Maike B. Am Ende entscheidet ein Gericht, dass die drei Jungen zurück zu ihren Eltern kommen. Dort sind sie bis heute. Über den Vater weiß man wenig. Er arbeitet als Hausmeister, wird als ruhig beschrieben, angenehm, weit weniger resolut als seine Frau. Er ist nicht angeklagt. Er schweigt in dem Verfahren.
Die Einzige, die vor Gericht über ihre Mutter spricht, ist die älteste Tochter Mia. Auch ihr habe die Mutter einreden wollen, sie sei krank, sagt sie. Sie ließ sich von verschiedenen Ärzten untersuchen, keiner konnte Krankheiten feststellen. Maike B. habe den Kindern gesagt, sie müssten besonders krank tun, wenn Gutachter kämen, ansonsten könnte sie ihnen bald nicht mehr so viele schöne Dinge kaufen. Mit 21 zog Mia aus.
Die beiden älteren Söhne verweigern die Aussage. Milo ist erst elf und wird vor Gericht nicht befragt. Maja, die auch nicht aussagen will, lässt dem Gericht ein Fax zukommen: Sie habe nicht gewollt, dass ihr Privatleben öffentlich wird. Die Richterin lässt sie vorladen. Maja umarmt ihre Mutter kurz im Gerichtssaal, sagen will sie nichts.
Wie kann eine Mutter so etwas tun?
Die Gerichtsgutachterin Dr. Mariana Wahdany liefert eine Erklärung: Maike B. soll am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom erkrankt sein. Betroffene erfinden Lügen über Nahestehende, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Eine Zeugin sagte vor Gericht, Maike B. sei von ihren eigenen Eltern vernachlässigt worden. »Sie holt sich über ihre Kinder die Aufmerksamkeit, die ihr so fehlt«, vermutet Wahdany. Die Gutachterin musste aus den Unterlagen ihre Schlüsse ziehen, Maike B. verweigerte ein persönliches Gespräch. Die Gerichtsgutachterin hält sie für voll schuldfähig.
Die Staatsanwaltschaft fordert in ihrem Plädoyer zehn Jahre Haft. Die Verteidigung hofft auf ein »mildes Urteil«. In der kommenden Woche soll das Urteil ergehen.
Der Albtraum der Familie B. hat noch kein Ende gefunden. Paul Berger, der selbst ernannte Rheuma-Spezialist, erzählt vor Gericht, dass erst vor einigen Tagen die drei Söhne, 17, 14 und elf Jahre alt, alleine in seine Praxis gekommen seien, weil sie Schmerzen hätten.