Sie bringen sich in Sicherheit

Seit Corona sind andere Menschen eine Gefahr. Distanz ist kostbar, sie entscheidet über Leben und Tod. Wie Reiche sich den ultimativen Abstand zur Gesellschaft kaufen.

ZEIT ONLINE, Ressort X, Die Vermögenden, 14.07.2020

Als die Pandemie in Deutschland begann und das Virus Sicherheitsschleusen und Landesgrenzen überwand, zu Karnevalssitzungen und ins Restaurant kam, in der Supermarktschlange und der Kirche stand, da gab es noch einen Ort, der sicher war: das eigene Zuhause.

Als Angela Merkel am 12. März eine Ansprache hielt und bat „wo möglich auf Sozialkontakte zu verzichten“, als das öffentliche Leben zum Erliegen kam, und Menschen zu Haushalten wurden, da gab es nur wenige Personen, in deren Nähe wir uns sicher fühlten: die eigenen Leute.

Corona war eine Kontinentalplattenverschiebung. Die Gesellschaft ist in kleine Inseln zerfallen, die wir Haushalt nennen, Kernfamilie, Schichtsystem oder Infektionsgemeinschaft. Manche saßen unfreiwillig auf derselben Insel, manche konnten sich aussuchen, mit wem sie sich umhertrieben. Distanz wurde zum höchsten Gut.

Die Inseln, die metaphorischen, die wir während Corona bewohnen, sind unterschiedlich groß. Es kann der Plattenbau sein, zwei Zimmer für fünf Menschen, oder der Landsitz mit eigenem Wald, Eisentor und gekiester Auffahrt. Distanz ist in unserer Gesellschaft nicht gleich verteilt. Während die einen an der Enge verzweifelten, bekamen andere von den Schutzmaßnahmen und den neuen Regeln gegen das Virus kaum etwas mit.

Manche Inseln liegen tatsächlich im Meer. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie halten die Welt draußen und damit das Virus.

Forsyth Island liegt vor Neuseeland. Ihr höchster Punkt liegt 300 Meter über dem Meeresspiegel, 300 Meter sind es bis zum Festland. Sie ist grün bewachsen, das Jahr über leben dort Schafe und einige Wochen im Jahr lebt dort auch Farhad Vladi. Forsyth Island gehört ihm. Er hat sie sich gekauft. So wie er sonst anderen Menschen Inseln verkauft. Farhad Vladi ist Deutschlands erfahrenster Inselmakler. Er sagt, auf der Welt gebe es niemanden, der tue, was er tut.

Sein Büro am Ballindamm mit Blick auf die Hamburger Binnenalster ist mit meeresblauem Teppich ausgelegt, an den Wänden hängen Fotos von weißen Stränden und türkisem Wasser, darunter stehen wuchtige Aktenschränke aus Metall, beschriftet mit „Bahamas“, „Seychellen“ oder „Frankreich“. In diesen Schränken ist Farhad Vladis Archiv, alle Inseln, die er je verkauft oder vermietet hat, Fotos, Landkarten, Briefmarken für unterschiedliche Länder, aufbewahrt in dicken Hängeordnern. Nächstes Jahr feiert Vladi Private Islands 50-jähriges Firmenjubiläum. Gut 3.000 Inseln hat er seit 1971 verkauft.

Die einsame, die eigene Insel ist Traum und Albtraum zugleich. Seit Daniel Defoes Schiffbrüchigen Robinson Crusoe, der 28 Jahre auf einer leben musste, ist sie Gegenstand einer eigenen literarische Gattung, der Robinsonade, die von der totalen Isolation erzählt. Die Insel war Strafe, sie war Exil. Aber sie ist auch Paradies, unberührte Natur, eine Auszeit oder gar die Möglichkeit, für immer aus der Gesellschaft zu verschwinden.

Farhad Vladi verkauft diesen Traum. „Die Menschen sehnen sich nach einem Platz für sich und ihre Lieben, wo sie ihre Ruhe haben“, sagt er. Seit Corona habe sich die Zahl der Kaufinteressierten verdoppelt. Die Insel verspricht nun auch: Gesundheit.

Der Preis einer „Qualitätsinsel“, wie Farhad Vladi bewohnbare Inseln nennt, beginnt bei 50.000 Euro. „Wer sich ein Auto kaufen kann, kann sich auch eine Insel kaufen“, sagt er. Meistens ist sie doch etwas teurer: „Im Normalfall kostet eine Insel zwischen 2 und 3 Millionen Euro.“

Seine Kunden hätten einen Wunsch, sagt Vladi: „Sie wollen kontrollieren, was sie sehen.“ Inselbesitzer überwachen, wer die Insel betritt, sie überwachen, was dort passiert. Keine Nachbarn, keine Auflagen. „Die einzige Obrigkeit ist die Natur.“ Die Insel ist das Gegenteil von Gesellschaft. Hier gelten nur die eigenen Regeln.

Im Gespräch mit dem Inselmakler fallen schnell bekannte Namen: Hallervorden, Pilawa, Darboven. Gerade verkauft Vladi die Insel der Swarovskis in der Lagune von Venedig. Mit ihren grünen Wiesen, Gemüsefeldern und Weinreben erinnert sie an die Toskana, die Becken und Wasserstraßen für die Fischzucht wirken wie eine Miniatur der venezianischen Kanäle. Obwohl viele seiner Kunden bekannt sind, sagt Vladi: „Ich habe die armen Reichen.“ Die wirklich Reichen, die „Hyperprominenten“ mieteten Inseln nur. Alles andere gäbe zu viel Aufruhr.

Distanz beginnt im Kleinen: ein eigenes Auto statt U-Bahn, vielleicht ein Haus mit Garten statt enger Mietwohnung, Pool statt öffentlichem Schwimmbad, Business statt Economy. In der 1. Klasse eines ICE hat man 89 Zentimeter Beinfreiheit, in der 2. Klasse sind es 80. Wer mehr Geld hat, bekommt mehr Raum. Abstand ist käuflich.

Gesellschaft ist etwas Unwägbares. Wir können nicht bestimmen, wer in die Wohnung neben uns einzieht oder ob um 7 Uhr morgens lautstark der Müll abgeholt wird. Wir können wählen und demonstrieren, doch keine Gesetze erlassen. Es ist nicht an uns zu entscheiden, wer am Nebentisch im Restaurant sitzt oder ob die Gruppe am anderen Ende des Hotelflurs jeden Abend die Musik aufdreht. Wir können unsere Umwelt nicht kontrollieren. Genug Geld birgt das Versprechen, dass wir es eben doch können.

In der Sekunde, in der Social Distancing Deutschland erreichte, meldeten sich gleich die ersten Schlauen, dass es viel mehr um Physical Distancing ginge als um soziales. Und natürlich hatten sie recht: Distanz ist nicht gleich Distanz.

So wie Farhad Vladi seine Inseln, verkauft auch Oliver Herbst eine Form der Distanz. Er ist Makler für Luxusimmobilien, seine Firma Immovision hat sich auf Seegrundstücke spezialisiert. Der Luxus, so sagt er, seien die „besonderen Features“: ein eigener Zugang zum See oder Fluss, ein Pool, eine Aussicht, die durch keine anderen Häuser gestört wird. Früher wollten die Reichen Penthäuser in der Stadt haben, heute meldeten sie sich und fragten nach abgelegenen Grundstücken auf dem Land. Je weiter die Nachbarn entfernt sind, desto besser.

„Wir leben in Deutschland in Luxus und Sicherheit“, sagt Oliver Herbst. „Doch die Pandemie zeigt uns, wie verletzbar das ist.“ Im Portfolio des Maklers befindet sich die Burg Marquartstein, gelegen auf einer Anhöhe im Chiemgau. Sie hat sogar eine Zugbrücke. „Ein Interessent sagte zu mir direkt: Da bleibt Corona draußen“, sagt er. Vor Corona bekam er für solche Objekte eine Anfrage in der Woche, nun ist es mindestens eine am Tag. Die Bedürfnisse seiner Kunden haben sich verändert: eine eigene Wasserquelle und Anbauflächen für Lebensmittel seien plötzlich wichtiger als Pool oder die Aussicht. Vor Kurzem hat er einen unterirdischen Bunker in sein Angebot aufgenommen: „Hätten wir vor Corona nie gemacht. Aber die Menschen fragen so etwas an.“ Wo der Bunker genau liegt, will er nicht verraten. Je weniger Menschen davon wissen, desto wertvoller ist er.

Um die Welt draußen zu halten, reichen schon 16 Millimeter dicke Wände: Die Firma BSSD (Bunker Schutzraum Systeme Deutschland) verkauft seit fünf Jahren maßgefertigte Bunker für Privatpersonen. Räume aus Panzerstahl, die von außen aussehen wie Garagen; Türen und Rolläden, die ein normales Schlafzimmer zum Panicroom machen. Früher verbaute nur das Militär Panzerstahl, heute dürfen das auch Privatleute. Eine Wand aus dem Material hält Patronen bis Kaliber 50 stand. Diese Patronen sind fingerdick und so lang wie eine Faust. Normalerweise benutzt man sie, um weit entfernte Funkanlagen oder Radargeräte zu zerstören.

Obwohl die Absicherung des eigenen Zuhauses schon bei einigen Tausend Euro beginnt, gehören besonders die Vermögenden zu den Interessenten. „Unsere Kunden fürchten vor allem einen europäischen Blackout“, sagt Jean-Paul Piedje, der die Schutzsysteme verkauft. Als in Berlin-Köpenick Anfang 2019 für 31 Stunden der Strom ausfiel, meldeten sich danach noch mehr potenzielle Käufer. Als der Konflikt zwischen USA und Iran beinahe eskalierte, meldeten sich noch mehr. Nach dem Tod von George Floyd: wieder mehr.

Je mehr Geld man investieren möchte, desto länger kann man im Bunker überleben. „Die meisten planen jedoch nur mit einigen Wochen“, sagt Jean-Paul Piedje. „Sie wollen sich nicht vor dem Atomkrieg schützen, sondern vor Ausnahmezuständen. Wenn es kein Essen oder Wasser mehr gibt, haben sie Angst, dass die Menschen anfangen zu plündern.“

Wer Geld hat, möchte es gerne behalten. Was die einen unfair finden, bezeichnen die anderen als Sozialneid. Das reichste Prozent unserer Gesellschaft besitzt aktuell 35 Prozent des Nettovermögens, und wenn die Armen mehr fordern, bedeutet das im Umkehrschluss weniger für die Reichen. Das Märchen vom Aufstieg, den jeder schaffen kann, vom Reichtum, wenn man nur hart genug arbeitet, ist eine schöne Vorstellung, aber eben ein Märchen, wiederholt von den Reichen wie eine beruhigende Gutenachtgeschichte. Das Land ist ungleich. Die Kontinentalplattenverschiebung, sie begann schon früher. Lange vor Corona.

Christoph Eichel blickt mit Sorge auf die Entwicklungen in Deutschland: „Ich spüre den Frust. Mal sehen, was passiert, wenn nächstes Jahr das Kurzarbeitergeld ausläuft.“ Er weiß: Je mehr Arbeitslose es gibt, desto größer ist die Spannung in der Gesellschaft und desto mehr geraten die Reichen in den Blick. Während er darüber spricht, sitzt Christoph Eichel in der Firmenzentrale der Result Group, eine Firma, die Unternehmen und Privatpersonen Schutz verspricht und individuelle Sicherheitskonzepte bietet. Die Zentrale ist kein Bürotower, kein Hochsicherheitstrakt, sondern ein kleines Haus in Seeshaupt am Starnberger See. Der König von Thailand residiert seit Corona in der Nähe, das Gelände der Stiftung Nantesbuch von Susanne Klatten ist nicht weit entfernt.

Die Menschen, die die Result Group schützt, sind nicht die oberen Zehntausend, sondern die oberen Tausend. „Die Privatkunden, die dauerhaft bei uns sind, haben mindestens ein mittleres dreistelliges Millionenvermögen“, sagt der Geschäftsführer Eichel. Er war zwölf Jahre Offizier bei der Bundeswehr, hat in Sicherheitspolitik promoviert und war danach in der Konzernsicherheit von BMW angestellt. Seit drei Jahren arbeitet er in der Result Group.

Christoph Eichel ist ein sehr großer, breiter Mann Ende 30. Er sieht weder gefährlich noch angsteinflößend aus, sondern bloß sehr stark. „Wir machen gerade einen Penetrationtest für eine Familie, die sich an uns gewendet hat“, erzählt er. Das heißt, die Experten der Firma schauen, was es alles über den Kunden und seine Familie öffentlich herauszufinden gibt. „Was wir rausfinden, können auch andere herausfinden.“ Sie checken Social-Media-Profile, lesen Zeitung, prüfen, wo das Haus, die Schule oder das Auto zu sehen sind. Je nahbarer ein Mensch ist, so scheint es, desto näher ist ihm die Gefahr.

„Viele melden sich bei uns, nachdem es Vorfälle gab. Erpressung oder Bedrohung“, sagt Christoph Eichel. Ein Blick in die polizeilichen Kriminalstatistiken der letzten Jahre zeigt: Erpressung taucht immer häufiger darin auf. „Und das sind nur die Fälle, die auch angezeigt werden.“ Gemeinsam mit dem Kunden überlegen die Berater, wie das Leben sicherer werden kann: Fenster, die einem Schuss oder Steinwurf standhalten, ein vernünftig geschaltetes Alarmsystem, Aufklärungsfahrten durch die Nachbarschaft, um zu sehen, wer sich dort aufhält. Personenschutz, sagt Eichel, sei immer die letzte Konsequenz.

Überhaupt gebe es in Deutschland gar nicht so viele, die sich tatsächlich privaten Personenschutz leisteten. Christoph Eichel schätzt: höchstens 100 Menschen. Viele davon seien Kunden der Result Group. Die Sicherheitsmaßnahmen sollen möglichst unauffällig bleiben. „Die wirklich Vermögenden versuchen keinen großen Fußabdruck zu hinterlassen“, sagt Eichel.

Die Kunden bekommen, was sie benötigen: jemanden, der das Grundstück bewacht, ein „Vorkommando“, das Risiken am Reiseort überprüft, Sicherheitstrainings oder tatsächlich jemanden, der sie auf Schritt und Tritt begleitet.

Wie groß kann die Angst vor der Welt sein, dass man diese Nähe zulässt? „Der Wunsch nach Autonomie ist mindestens genauso groß wie der nach Sicherheit“, sagt Eichel. Die Kunden seien durch ihre Berufe viel unterwegs, sie stünden in der Öffentlichkeit und wollten deshalb wenigstens in ihrer freien Zeit absolute Ruhe.

Es ist ein zutiefst verständlicher Wunsch, im eigenen Zuhause sicher zu sein, nicht um das eigene Leben oder das der Lieben fürchten zu müssen. Aber ist es wirklich die Angst vor der Welt draußen, der Wunsch nach Sicherheit, der die Distanz zwischen Menschen größer werden lässt? Oder ist es nicht das Geld, das Angst schürt und Raum braucht? Ein psychologisches Experiment aus dem Jahr 2006 sagt: Es ist das Geld.

Für dieses Experiment bat ein Team aus Psychologinnen Probanden einen Stapel Fragebögen auszufüllen. Die Probanden saßen an einem Tisch mit Computer, auf dem ein Bildschirmschoner lief. Der einen Gruppe zeigte er Fische, der anderen Gruppe Geldscheine. Nach einiger Zeit teilten die Forscherinnen den Probanden mit, dass ein anderer Proband in den Raum kommen würde und bat sie, dafür den Stuhl aus der Ecke neben den eigenen zu stellen. Die Menschen, bei denen die Geldscheine über den Monitor flimmerten, rückten den anderen Stuhl weiter weg, als die, die Fische gesehen hatten. Im Schnitt einen halben Meter.

Distanz wird ein Bedürfnis. Und um dieses Bedürfnis zu befriedigen, braucht es eben: Geld. Doch seit Corona ist Distanz kein exklusives Bedürfnis der Wohlhabenderen mehr, das sich aus ihrem Wohlhabendsein ergibt, es ist der Schlüssel zu Gesundheit geworden. Wie stark man sich von anderen distanzieren kann, entscheidet über Gesundheit und Krankheit. Arbeitet man im Homeoffice oder mit Menschen? Steht man mit Maske in der U-Bahn oder kann man im Taxi oder im eigenen Auto fahren? Kauft man ein oder lässt man liefern? Distanz kostet Geld und verspricht Gesundheit.

Die erste Welle des Virus traf alle. Sie breitete sich von Wuhan über den gesamten Erdball aus, wurde verschleppt und mitgebracht von denen, die durch die Welt reisten oder bloß in die Skiferien. Es waren die Reichen, die das Virus auf dem Planeten verteilten, und zunächst erkrankten sie so wie alle anderen.

Vier Monate später ist es ein Virus der Armen geworden. Die drei Türme des Iduna Zentrums in Göttingen, 18 Stockwerke, 700 Menschen unter Quarantäne. Der Wohnblock am Berliner Ostbahnhof, 6 Stockwerke, 200 Menschen unter Quarantäne. Das eng besiedelte Berlin-Neukölln, in dem an sieben verschiedenen Orten fast 400 Haushalte unter Quarantäne standen – mit bis zu zehn Menschen in einer Wohnung. Die Fleischfabrik in Coesfeld, die Fleischfabrik von Tönnies. Es ist ein Virus der Enge.

Als das Virus über Tönnies‘ Fleischfabrik herfiel und der Lockdown noch zur Diskussion stand, sagte der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, es handle sich bei den Infizierten in allererster Linie um Menschen, die „an weiten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gar nicht teilnehmen“. Deswegen müsse man auch nicht die Restaurants schließen oder die Fitnessstudios. Die Inseln der Infizierten treiben inzwischen weit entfernt vom Rest der Gesellschaft. Während es zu Beginn galt, das Virus draußen zu halten, versucht man jetzt, es drinnen zu halten. In der Wohnung, der Plattenbausiedlung, im Stadtteil, notfalls mit einem Zaun.

Wer arm ist, ist auf die Gesellschaft angewiesen. Auf öffentliche Räume wie Bibliotheken, Jugendtreffs oder das städtische Schwimmbad. Auf funktionierenden Nahverkehr, eine gesetzliche Krankenversicherung oder den günstigen Discounter. Gesellschaft soll etwas für alle sein, die Schwachen trägt sie solidarisch mit.

Corona setzte diese Regel einfach aus. Die Discounter wurden als erstes leer gekauft und die, die zu wenig Geld hatten, um zu hamstern, die bei denen das Geld nicht monatlich kommt, mussten früh vor den Supermärkten stehen, um noch etwas zu bekommen. Dann verschwand das öffentliche Leben. Die Büchereien, Schulen und das Nachbarschaftscafé durften nicht mehr öffnen, für ein paar Wochen nicht einmal mehr die Tafeln.

Während in Deutschland ein 24-Jähriger aus Heidelberg mehr als eine Million medizinischer Masken gekauft hat, um sie für bis zu 20 Euro weiterzuverkaufen, weil er auf die Panik und die Pandemie spekulierte, horteten superreiche Russen Beatmungsgeräte. Normalerweise flogen sie für medizinische Behandlungen ins Ausland, jetzt durften sie nun nicht mehr ausreisen. Zwar hat auch Russland private Kliniken, die Behandlung von Covid-19 war aber staatlichen Krankenhäusern vorbehalten, die einen schlechten Ruf haben. Und so kauften die, die es konnten, Beatmungsgeräte für den Fall der Fälle, ganz gleich, wem diese Geräte dann fehlen würden.

Wird den Reichen die Gesellschaft einfach egal? Eine Untersuchung des Psychologen Michael W. Kraus, der an der Yale University forscht, zeigt, dass Menschen umso schlechter Gesichter lesen können, je reicher sie sind. Er und sein Team baten Probanden, die Gesichtsausdrücke auf Fotos zu deuten: Je reicher jemand war, umso öfter lag er daneben. Es war nicht so, dass die Probanden es nicht versuchten, sie konnten es nur einfach nicht mehr. Als würde Geld blind machen für Gefühle.

Kraus und sein Team erklärten es sich so, dass Geld von Abhängigkeiten befreit. Man muss sich nicht mehr auf andere Menschen verlassen, die einen Nachmittag auf das Kind aufpassen, auf die Freunde, die beim Umzug helfen, die Kinder, die sich im Alter kümmern. Man kann sich stattdessen auf sein Geld verlassen und Emotionen zu erkennen wird eine Fähigkeit, die man einfach nicht mehr braucht. Die nächste Evolutionsstufe – aber auch ein Fortschritt?

Das Virus veränderte erst die Gesellschaft, dann veränderte es sich selbst. Die Hotspots der Infektionen sind jetzt dort, wo viele wenig haben. Das Virus wurde sozial statt global. Social Distancing ist wortwörtlich zu verstehen: Die Distanz zu anderen sozialen Gruppen hält uns gesund – sofern wir in der richtigen sind.

Doch schon vor Corona blieben soziale Gruppen gerne unter sich. Die Ähnlichkeit im Gegenüber, sie schützt uns noch vor mehr: vor dem Gefühl, dass es in diesem Land ziemlich ungerecht zugeht.

Drei Forscher des Instituts für neurologische Krankheiten und Schlaganfälle in Maryland haben mit Gehirnscans nachgewiesen, dass es für Altruismus einen Bereich in unserem Gehirn gibt. Selbstloses Handeln ist keine gesellschaftliche Maxime, es ist Teil des Menschen. Unser Gehirn kann Ungerechtigkeit nur schwer aushalten, aber es hat auch eine Lösung: Es schaltet bestimmte Bereiche einfach ab. Keely Muscatel, eine Neurowissenschaftlerin der UCLA, zeigte unterschiedlichen Probanden Fotos krebskranker Kinder und beobachtete dabei die Gehirnaktivität: Das Gehirn der Reichen zeigte weniger Regung. Es war, als käme ihnen das Mitleid abhanden. Geld haben und Armut sehen bringt das Gehirn in einen Spannungszustand, der nur schwer auszuhalten ist, doch man kann sich davor schützen. Indem man unter seinesgleichen bleibt.

Der China Club Berlin muss ein besonders sicherer Schutzraum sein – vor dem Virus und der Welt. An der Rückseite des Hotel Adlon am Brandenburger Tor führt eine banale Glastür zum China Club, dem vielleicht exklusivsten Club Berlins oder sogar Deutschlands. Durch das verglaste Foyer gelangt man zu zwei Aufzügen, zum linken führt ein roter Teppich, in den das Logo des Clubs geknüpft ist, zwei Berliner Bären, in ihrer Mitte eine chinesische Pagode. Man kann die goldene Klingel drücken oder die Mitgliedskarte an den Kartenleser halten. Wenn man eine hat.

Der China Club bezeichnet sich selbst als International Social Club. Orte wie diesen mit Zugangsbeschränkung gibt es zahlreiche auf der Welt. Die meisten verstehen sich als Business Clubs, in denen genetzwerkt wird und Geschäfte gemacht werden.

Der China Club will anders sein: Um Geschäfte soll es hier ausdrücklich nicht gehen. Die gut 1.000 Mitglieder werden in persönlichen Gesprächen und durch ein Gremium um die Gründerin Anne Maria Jagdfeld ausgewählt. Der Club will ein Refugium für die Mitglieder sein, ein Ort an dem sie unter sich sind.

Die Aufnahmegebühr beträgt 10.000 Euro, die Mitgliedschaft kostet 2.000 Euro im Jahr. Diese Preise setzen Vermögen voraus, sodass man hier nicht mehr darüber sprechen muss. Hinter der Aufzugstür warten zwei Stockwerke, deren Einrichtung Laien an ein sehr authentisches China-Restaurant erinnert und die sich Kennern sofort als wertvolle Sammlung chinesischer Kunst und Antiquitäten präsentiert.

Es ist kurz vor 13 Uhr, das Restaurant in der oberen Etage ist fast leer. Am Eingang: Schwarz lackierte Holzwände mit detaillierten Schnitzereien, dahinter öffnet sich ein großer, heller Raum mit bunt gepolsterten Stühlen und Sitzecken am Rand. An den Wänden hängt chinesische Kunst: ein Porträt von Mao, Babys in Militäruniformen, fotorealistische Gemälde. Der Küchenchef wurde aus einem der besten Restaurants Singapurs abgeworben. Es riecht leicht nach Duftreis.

Was ist so anziehend an einem Ort, für den man mehrere Tausend Euro bezahlt, bloß um ihn zu betreten? Vielleicht genau das: Der China Club ist berühmt geworden durch seine Exklusivität und die Diskretion über das, was dort passiert. Auf der unteren Etage warten auf die Mitglieder neben weiteren Kunstwerken sieben private Suiten. Dort gibt es Tische, um ungestört zu essen, tiefe Sessel und breite Sofas. Der Club bietet Menschen Privatsphäre, die sie in der Öffentlichkeit nicht haben, und womöglich ist das fast der ganze Zauber.

Das Wertvollste, das reichen und berühmten Menschen genommen wurde, ist ihre Privatsphäre. Ein Gut, das sich nur schwer kaufen lässt. Die Mitglieder sind Designerinnen oder Politiker, Künstlerinnen oder Vorstandsvorsitzende, sie stehen in der Zeitung, ob sie wollen oder nicht. Hier im China Club haben sie ihre Ruhe. Der Club ist Luxus, eine Auszeit von der Welt da draußen. Vielleicht ist es auch der Ort, an dem man behandelt wird, wie man es möchte: Ein Nein soll den Mitarbeitern am schwersten über die Lippen kommen.

Die Mitglieder ähneln einander nicht nur in Prominenz und Kontostand, 70 Prozent von ihnen sind Männer. Die Welt des Reichtums und des Abstands ist eine männliche Welt. Meist sind es Männer, die Distanz verkaufen, meist sind es Männer, die sich dafür interessieren. Inselbesitzer, Bunkerbauer, Schutzpersonen, in den allermeisten Fällen sind es Männer. Schon komisch, wird Vorsicht und Sorge doch immer Frauen zugeschrieben.

Ist es schlimm, unter sich sein zu wollen? Sind wir nicht alle am liebsten bei denen, die uns ähnlich sind? Fühlen wir uns in unseren Echokammern nicht besonders wohl? Es kommt darauf an, ob man den Blick wieder schweifen lässt.

Je näher sich Menschen sind, desto großzügiger sind sie. Die Obdachlosen, die Brötchen und Schlafplatz teilen, die Reichen, die ohne auch nur darüber nachzudenken, die Freunde in den Urlaub mitnehmen. Der kanadische Psychologieprofessor Stéphane Côté, der auch an der Forschung zum Erkennen von Emotionen beteiligt war, untersuchte, ob Reiche geiziger sind als Arme und musste zunächst feststellen: Ja. Doch nicht der Reichtum selbst macht die Menschen geizig, sondern die Unterschiede zwischen Arm und Reich. Dort, wo Ungleichheit extrem sichtbar war und die Distanz groß, waren die Reichen weniger großzügig, als dort, wo man sich annäherte. Hatten Menschen das Gefühl, der Hilfesuchende habe einen Anspruch auf ihre Hilfe, halfen sie seltener.

Ein Anspruch auf Hilfe zeigt Distanz und Nähe zugleich. Ich kann jemandem etwas geben, das er selbst nicht hat, das unterscheidet uns. Diesen Anspruch gibt es aber nur, weil alle Menschen gleich sind, weil sie nah sind. Theoretisch. Der Mensch hilft einem anderen, wenn er sich selbst in ihm erkennen kann. Wenn wir uns selbst abgrenzen, wie sollen wir dann die Gemeinsamkeiten finden?

Deutschland ist ein Sozialstaat, so funktioniert dieses Land. Steuern finanzieren den öffentlichen Raum, sie finanzieren die Straßen, subventionieren Verkehrsbetriebe, sie bezahlen Bildung, Kultur, staatliche Sicherheit und Politik. Sie bezahlen jetzt viele der Corona-Maßnahmen. Der größte Teil der Steuereinnahmen kommt von den Reichen, das prüfte das Institut der deutschen Wirtschaft. Doch was, wenn man meint, auf diesen Staat nicht angewiesen zu sein und diesem Staat nichts mehr geben will?

Die Handykamera zeigt Christoph Heuermann unter Deck auf seinem neu gekauften Katamaran in einem kroatischen Hafen. Er betreibt Blogs wie staatenlos.ch oder tax-free.tody , die sich an „Unternehmer richten, die freier sein wollen“. Dort gibt Christoph Heuermann Tipps, wie man Steuern vermeidet und welche Staatsbürgerschaften besonders günstig sind: die der Komoren im indischen Ozean, die russische oder die von Dominica, einer kleinen Insel in der Karibik, die ihre Staatsbürgerschaft nach einer Schenkung von 100.000 Dollarn vergibt. Er erzählt von einem Leben abseits von staatsbürgerlichen Konzepten, ein Leben, wie er selbst es hat.

Vor fünfeinhalb Jahren, da war Heuermann 24 Jahre alt, hat er seinen Wohnsitz in Deutschland aufgegeben. Er hat Politik und VWL studiert und sei dort in die „libertäre Szene“ gekommen. Als er nach dem Studium von Mexiko bis Kolumbien reiste, startete er seinen Blog und beschloss, dass sein Leben in Deutschland vorbei war. Seitdem verdient er sein Geld mit Kursen über Steuervermeidung und Büchern über Staatenlosigkeit, individuelle Beratung für Gleichgesinnte und der Provision, wenn er sie an Anwälte und Steuerberater vermittelt. Eine Beratung von ihm kostet mindestens 997 Euro. Dabei arbeitet er von überall auf der Welt aus, aus Chile oder Argentinien, aus Panama, Honduras oder Schweden.

Das Konzept dahinter heißt Flaggentheorie, der Lifestyle heißt Perpetual Traveller: Man setzt sein Fähnchen dort auf der Welt, wo es einem die meisten Vorteile bringt. Man gründet die Firma in einer Steueroase, man meldet sich, wo man nicht steuerpflichtig ist, man hat Staatsbürgerschaften, die einem Vorteile versprechen. So vermeidet man nicht nur Steuern, sondern auch Pflichten als Staatsbürger oder so wie jetzt, während Corona: Reisebeschränkungen. Reisen ist wichtig, denn steuerpflichtig wird nur, wer sich länger als ein halbes Jahr in einem Land aufhält.

Christoph Heuermann sagt, er habe noch niemals Einkommenssteuer bezahlt. „Steuern sind für mich Raub.“ Er nennt sich „Anarchokapitalist“. Seine Firma sitzt in den USA in Miami – „größte Steueroase der Welt, die geben keine Kontodaten raus“, – in Georgien investiert er in eine Walnussplantage, in seinem Pass steht weiterhin Deutsch. „Nur wenn es eine Besteuerung nach Staatsbürgerschaft statt nach Wohnort geben sollte, würde ich die Staatsbürgerschaft wechseln.“

Seine Kunden wollen ein ähnliches Leben, eines ohne Bürokratie und mit so wenig Steuern wie möglich. Seit Corona meldet sich eine steigende Zahl junger Familien, die lieber weiterhin ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen, dies nach deutschem Gesetz aber nicht dürfen. Christoph Heuermann hilft ihnen, das passende Land zu finden.

Dieser Lebensstil ist der ultimative Abstand zum Rest der Welt. Gesellschaftliche Übereinkünfte, Pflichten und Regeln scheinen egal zu sein. Es ist das Konzept des größtmöglichen Vorteils für das Individuum.

Selbst Corona konnte Christoph Heuermann entfliehen: Erst war er im Jemen, dann in Ägypten, Mexiko, Schweden und nun in Kroatien. Doch er floh nicht vor dem Virus, sondern vor den Beschränkungen. Das Virus selbst hält er für eine „harmlose Grippe“, die Maßnahmen hätten „jegliche Rationalität verloren“. Auf seinem Instagram-Account lässt er seine 41.000 Follower an seinem Leben abseits der Pandemie teilhaben: #covid1984 steht unter einigen Fotos. Eine Anlehnung an George Orwells fiktiven Überwachungsstaat, der nun, so glauben die, die das Hashtag verwenden, durch Corona dystopische Realität wird – oder schon ist.

Während bis vor fünf Jahren ein Paar hundert Millionäre auswanderten, sind es inzwischen mehrere Tausend, die Deutschland jedes Jahr den Rücken kehren. Es mag die Politik sein, die Steuern oder der Wunsch nach dem Wegfall staatlicher und gesellschaftlicher Kontrolle, die diese Menschen auswandern lässt. Blogs, die zu diesem Schritt raten, legen nahe, dass es alles ist.

Warum sollte der, der es sich leisten kann, nicht dorthin gehen, wo es ihm gefällt? Wo es die maximale Freiheit und die minimalsten Regeln gibt? Der Wunsch nach Freiheit und die Überzeugung, weiter zu sein als staatliche Konzepte, gipfelt in der Idee, einfach neue Gesellschaften zu schaffen. Eine Idee ist die Stadt Neom in der saudi-arabischen Wüste. Eine Planstadt, die nur den Klügsten und Nützlichsten zugänglich sein soll. Die Stadt soll nahezu souverän sein, Steuern und Wirtschaft würden von Saudi-Arabien abgekoppelt. Noch extremer ist die Idee des Seastading. Futuristisch aussehende Kapseln im internationalen Gewässer, in denen man leben kann. Peter Thiel, der Gründer von PayPal, investierte in ein solches Bauprojekt in Französisch Polynesien. Die Hoffnung der Interessenten: eine Gesellschaft ausschließlich nach ihren Regeln, mit Gesetzen, die sie selbst bestimmen. Dort sollen sich nur Gleichgesinnte versammeln. Eine Gesellschaft aus Menschen, die mit der Gesellschaft gebrochen haben.

Wenn man möchte, hält Geld einem die Gesellschaft vom Leib. Während wir normalerweise einander brauchen und deswegen auch einander aushalten müssen, macht Reichtum soziale Beziehungen zur Ware und damit austauschbar. Trotzig wie ein kleines Kind, kann man gehen, wenn die Familie einem nicht mehr gefällt, oder die Freunde, die Kollegen, die Stadt oder gleich das Land.

Distanz macht das Leben kontrollierbar und die eigene Welt vermeintlich weit. Aber Distanz, vor allem die soziale, verengt den Blick. Den Blick, mit dem man auf andere Menschen und auf andere Lebensrealitäten schaut und etwas über das Menschsein lernt. Es ist nicht nur die Gesellschaft, die von den Reichen profitiert, es sind auch die Reichen, die von der Gesellschaft profitieren. Distanz mag ein hohes Gut geworden sein, doch kein Mensch ist eine Insel.