Wenn sich zwei Menschen in der Öffentlichkeit küssen, schauen alle angestrengt weg. Wann haben wir angefangen, uns für Zuneigung zu schämen?
DIE ZEIT, Entdecken, 13.08.2020
Ins Grübeln kam ich an einem Samstag im Park. Eine Freundin feierte ihren Geburtstag, es gab Grillwürstchen und Bier, die Sonne schien, und mein Exfreund war auch da. Wir hatten uns vor zwei Jahren getrennt, aber die gemeinsamen Freunde waren geblieben.
Als ich gehen wollte, er aber noch nicht, fragte mich eine Bekannte: »Wie? Ihr seid nicht mehr zusammen?« Ich blickte zu meinem Exfreund, der am anderen Ende der Party stand und mit dem ich den ganzen Abend kaum geredet hatte. Wie konnte jemand glauben, dass wir immer noch ein Paar sind? Oder eher: Wieso wundert es niemanden, wenn sich ein vermeintliches Paar mit dem Arsch nicht anguckt?
Ich denke seitdem viel darüber nach, woran man Paare erkennt. Sie fassen sich an, einer legt den Arm um den anderen, sie küssen sich – theoretisch. Die Paare in meinem Freundeskreis tun so etwas nicht. Im Gegenteil: Sie betreten zwar gemeinsam den Raum, lösen sich dann aber gleich voneinander und sind als Paar erst wieder sichtbar, wenn sie gemeinsam gehen. Habe ich überhaupt schon bei meinen Freunden gesehen, wie sie einander küssen? Neulich sagte mir eine Freundin, es falle ihr bereits schwer, ihrem Freund vor anderen etwas Nettes zu sagen.
Wann eigentlich wurde öffentlich gezeigte Zuneigung zu einem schambesetzten Bekenntnis?
Mein jetziger Freund und ich brechen diesen Code. Wir halten unterm Tisch Händchen; manchmal reden wir miteinander, als wäre sonst niemand da; und ja, wir küssen uns auf der Straße. Ich mag das – und doch ist es mir peinlich. Besser gesagt: Ich merke, dass andere es peinlich finden. Körperliche Nähe bei Paaren wird meist mit einem irritierten bis missbilligenden Blick quittiert. Die einen müssen sehr lange blinzeln, die anderen wenden den Kopf ab, als würde jemand vor ihnen seine Bank-PIN eingeben. Wieder andere verdrehen die Augen, Ablehnung und Nicht-hingucken-Müssen in einem Move. Die vermeintliche Diskretion wird so überbetont, dass dem küssenden Paar sofort klar wird: ganz schlechte Idee. Noch extremer ist es, wenn ein Kuss zum Knutschen wird. Selbst Fremde rufen einem dann gern mal zu: Nehmt euch ein Zimmer!
Seit Corona ist Nähe gefährlich geworden. Ich umarme einige Freunde seit Monaten nicht mehr. Selbst der Händedruck ist jetzt unerwünscht. Wie nah ich Fremden kommen darf, ist behördlich geregelt. Wie schön, könnte man denken, dass es da noch Paare gibt. Die bilden eine Infektionsgemeinschaft und können einander nach Herzenslust küssen, ohne jedes Distanzgebot. Können sie aber nicht. Denn die Leute, die es sehen, nehmen Anstoß daran.
Es ist absurd: Wir sind süchtig nach Bildern, nach der expliziten Darstellung von ungefähr allem. Pornos zeigen jede vor- und unvorstellbare Sexpraktik, Big Brother geht in die 150. Staffel, auf Instagram erfährt man mehr über das Leben irgendwelcher Fremden, als man über das der eigenen Freunde weiß, und wir wollen das so. Aber Küsse im echten Leben? Das halten wir nicht aus. Und je näher wir die Küsser kennen, umso weniger wollen wir von ihrer Verliebtheit sehen. Warum nur?
Vielleicht liegt es daran, was auf einen Kuss folgen kann: Sex. So aufgeklärt wir einerseits sind, so unangenehm ist es, nahestehende Menschen als sexuelle Wesen wahrzunehmen. Deswegen wollen wir nichts über das Sexleben unserer Eltern oder Geschwister wissen, deswegen sind enge Freunde für uns »wie Geschwister«. Auch ihnen sind wir extrem nahe. Einen Kuss zu beobachten ist die Erinnerung daran, dass unsere Nächsten nicht mit allen nur platonisch verkehren. Ein physisches »too much information«.
Küsse sind ein seltsames Phänomen. Obwohl es eine ganze Wissenschaft gibt, die sich nur mit aufeinandergepressten Mündern beschäftigt, die Philematologie, kann bis heute niemand sicher sagen, warum Menschen einander küssen. Eine Theorie ist, dass die Geste ein Überbleibsel aus unserer Affen-Vergangenheit ist. Affenmütter kauen ihren Babys das Essen vor und küssen es ihnen in den Mund. Biologen glauben, dass wir beim Küssen erschmecken, ob der andere zu uns passt. Freud sagt, dass es mit dem kindlichen Verlangen nach den Brustwarzen der Mutter zu tun hat.
Doch welche Triebe man auch ins Spiel bringt, sie werden dem Kuss nicht gerecht. Seit wir von den Bäumen geklettert sind, ist alles am Küssen, das Wen, Wie und Wann, auch eine soziale Botschaft. Und zwar nicht nur an den Geküssten, sondern zugleich an den Rest der Welt. Darum steht immer auch die Frage im Raum: Was wollen die uns beweisen?
Denn im Grunde ziehen Küsse uns an. Wir wollen Liebespaare im Film knutschen sehen, zu Küssen von Promi-Paaren werden ganze Artikel geschrieben, und bei einer Trauung wird nichts sehnlicher erwartet als der finale Kuss. Alle gucken hin, legen die Köpfe schief, applaudieren.
Als Teil eines starren Rituals ist das Küssen also erwünscht. Ein Kuss, sagt die Kulturanthropologin Ingelore Ebberfeld, ist ein Versprechen auf das, was noch kommt. Eine gemeinsame Nacht, gar ein gemeinsames Leben.
Man kann mit mehreren Menschen gleichzeitig Sex haben, aber küssen kann man nur einen. Ein Kuss ist vor allem anderen etwas zwischen zwei Menschen. Es gibt kaum etwas Intimeres, nichts Exklusiveres. Auch wenn er nur einen Sekundenbruchteil dauert, für diesen Sekundenbruchteil sind die Küssenden beieinander, und die Welt ist draußen.
Das nimmt die Welt den Paaren übel. Früher fiel die Begründung leicht: So etwas sei unanständig. Heute geht es mehr um Rücksicht – auf die frisch Getrennten, die unglücklich Verliebten, die, die allein sind. Klingt nett, aber in Wahrheit denken wir dabei bloß an uns. Wir sitzen da und halten es nicht aus, egal zu sein. Deswegen hören wir auf zu reden, räuspern uns oder suchen theatralisch das Weite, als würde das küssende Paar jeden Moment zur Penetration übergehen.
Dabei ist die Forschung sich einig, dass öffentlich gezeigte Zuneigung zu einer gesunden Beziehung beiträgt. Die Sichtbarkeit stärkt das Paar. Ein Kuss kann ein unausgesprochenes »Bei uns läuft es gut« sein. Manchmal ist ein Kuss auch nur ein Test, ob es gut laufen könnte. Er kann ein Anfang sein oder das Ende von allem. Beides ist okay.
Es gibt einen ganz besonderen Kuss: den ersten. Die Sekunden davor, in denen man glaubt, der Puls setzt gleich aus, die Millisekunde, in der sich die Lippen berühren, erst ist alles ganz langsam und plötzlich irre schnell. Wie eine Achterbahnfahrt, und wenn man unten ankommt, blickt man etwas entrückt auf die Welt.
Erste Küsse sind fast immer öffentlich. In einem Café, beim Spaziergang, in der Kneipe oder auf der Party. In diesem Moment ist egal, wer zusieht. Diese Achterbahnküsse werden seltener, je länger man zusammen ist, und irgendwann steht man auf einer Party und redet den ganzen Abend nicht miteinander.
Ich küsse meinen Freund jetzt öfter. Noch öfter. Vor meinen Freunden, vor Fremden. Ich versuche, nicht zu lachen, wenn wir wie Teenager drei Bahnstationen lang knutschen, denn ja, es ist mir immer noch ein bisschen peinlich. Aber dann fällt mir wieder ein, dass es viel peinlicher ist, sich für Nähe zu schämen. Ich will, dass sich auch andere mehr küssen. Aus Liebe oder Lust oder einfach nur, weil sie es können.