Opfer oder Steineschmeißer?

Nach einer Demo in Hamburg nahmen Polizisten 35 Menschen in Gewahrsam, viele von ihnen Jugendliche. Die Polizei hält sie für Störer, die Jugendlichen sind verstört.

ZEIT Hamburg, 12.06.2020

An diesem Freitag bereitet sich die Polizei erneut auf Demonstrationen am Wochenende in Hamburg vor. Sie wollen vermehrt Kommunikationsteams einsetzen, ohne Helm, dafür mit Weste. Dieses Mal soll es anders laufen. Zwei der Demonstrationen werden am Steintorplatz stattfinden, beide sollen gegen Rassismus und Polizeigewalt sein. Die Teilnehmer wollen sich direkt neben der Brücke versammeln, auf der ein Polizeieinsatz am vergangenen Samstag für Aufruhr sorgte: Gegen 20 Uhr wurden an der Südseite des Hauptbahnhofs, auf der Steintorbrücke, 35 Menschen in Gewahrsam genommen, 15 davon sind minderjährig. Auf mehreren Videos ist dokumentiert, wie sie mit erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand stehen, wie Demonstrierende „freilassen, freilassen“ skandieren und wie sie nach über zwei Stunden in HVV-Bussen weggefahren werden.

Am Nachmittag hatten sich auf dem Hamburger Rathausmarkt viele Tausende getroffen, um zu demonstrieren. Angemeldet waren 525 Teilnehmer, es kamen 14.000. Es war eng, aber friedlich. In den Abendstunden, als sich die Demonstration langsam auflöste, kippte die Stimmung. Polizeibeamte wurden mit Flaschen und Feuerwerkskörpern beworfen, Barrikaden errichtet und Wasserwerfer in Stellung gebracht. 24 Polizeibeamte wurden verletzt, der Wasserwerfer versprühte Nieselregen und die Polizisten Pfefferspray. Aus der friedlichen Kundgebung entwickelte sich eine Auseinandersetzung zwischen 600 Beamten und einer „Störergruppe“ aus 200 bis 400 Menschen, so viele waren es nach Angaben der Polizei.

Es sind Bilder, wie man sie immer wieder aus Hamburg kennt. Man hätte danach über das Nicht-Einhalten des Abstands sprechen können, darüber, wie aus einer friedlichen Demo der eingeübte Kampf zwischen Autonomen und Polizei wurde. Doch vor allem der Einsatz auf der Steintorbrücke sorgte in den Tagen danach für hitzige Diskussionen.

Bereits am vergangenen Sonntag hat ZEIT ONLINE mit zwei jungen Frauen, die unter den Festgehaltenen waren, und mit weiteren Augenzeugen sprechen können und berichtet. In den nächsten Tagen gab es weitere Gespräche mit jungen Menschen, die ebenfalls in Gewahrsam genommen worden waren. Mithilfe ihrer Schilderungen und mit Statements der Hamburger Polizei werden die Ereignisse hier nun rekonstruiert.

Kerem ist 14 Jahre alt, seine Eltern kommen aus der Türkei. Er sagt, er sei am Rande der Krawalle in der Mönckebergstraße mit einigen Freunden mitgelaufen. „Wir waren da. Aber wir haben nichts kaputt gemacht, keine Flaschen geworfen. Das war nicht unser Ziel. Wir wollten uns das ansehen, weil wir das interessant fanden.“ Auf der Demo selbst sei er nur kurz gewesen.

Ella ist 22 Jahre alt und ihre Freundin Carolin 23, sie sind weiß. Beide waren bis zum Ende auf der Demo und dann auf der Suche nach einer Toilette. Deswegen seien sie auch nicht über die Mönckebergstraße, sondern über die parallel verlaufende Steinstraße gegangen. „Wegen Corona konnten wir nirgendwo aufs Klo“, sagt Ella.

Leah und Andrea sind beide 20 Jahre alt, sie gehören zur Schwarzen Community und haben bereits am Sonntag gegenüber ZEIT ONLINE von ihren Erfahrungen berichtet. Nach der Demo seien sie auf dem Weg zum Steindamm hinter dem Hauptbahnhof gewesen, um dort etwas zu essen. „Das hat länger gedauert, weil wir immer wieder Freunde getroffen haben“, erzählt Leah.

Alle Betroffenen heißen eigentlich anders. Sie möchten ihre Namen nicht öffentlich machen, weil sie Sorge vor Konsequenzen haben. Alle echten Namen sind ZEIT ONLINE bekannt.

Gegen 20 Uhr kommen alle fünf auf unterschiedlichen Wegen und aus unterschiedlichen Gründen auf der Steintorbrücke am Hauptbahnhof an. Ella und Carolin suchen immer noch eine Toilette, Kerem will nach Hause, Leah und Andrea wollen auf dem Steindamm etwas essen. Die Sicht der Polizei ist eine andere: Die fünf sollen Teil einer größeren Störergruppe gewesen sein, die zuvor in der Mönckebergstraße Beamte angegriffen und Barrikaden errichtet hat. So sei die Entscheidung gefallen, 39 Menschen auf der Brücke „gemäß dem Grundsatz Gefahrenabwehr vor Strafverfolgung“ festzuhalten, „um eine unmittelbar bevorstehende Fortsetzung von Straftaten abzuwenden“, schreibt der Pressesprecher der Polizei.

Was dann passiert, beschreiben die fünf als Tumult. „Wir waren fast am Ende der Brücke, als wir sahen, dass hinter uns Kids und die Polizei rannten“, erzählt Ella. „Als wir merkten, dass die Polizei einkreisen will, sind wir auch gerannt.“ Kerem sagt, er wurde gegriffen und zu Boden gebracht. Leah sagt, sie habe die Hände hochgenommen und ständig wiederholt: „Ich habe nichts gemacht, ich leiste keinen Widerstand.“ Sie sei an die Wand geschubst worden, ähnlich berichten es Andrea, Ella und Carolin. „Wir haben die ganze Zeit gerufen: Wir wollen nur auf Toilette, wir wollen nur auf Toilette“, sagt Ella.

Vier Personen sollen, laut Polizei, dann mit Kassenbons und Waren belegt haben können, dass sie nicht beteiligt waren, die dürfen gehen. „Wir haben immer wieder gesagt, dass wir woanders lang gelaufen sind. Die Beamten meinten nur, sie hätten alles auf Video“, erzählt Carolin. Um kurz nach acht Uhr stehen 35 Menschen mit erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand. 15 von ihnen sind minderjährig, der Jüngste ist 13 Jahre alt. „Nachdem diese Gruppe festgesetzt worden war, herrschte schlagartig Ruhe in der Innenstadt“, schreibt der Sprecher der Polizei.

Alle fünf haben Fragen: Was wird uns vorgeworfen? Wie lange stehen wir hier? Was passiert jetzt? Was hat das alles für Konsequenzen? Die Antworten der Polizisten vor Ort sollen variiert haben: Das wisst ihr selbst am besten. Keine Ahnung, Ansage kommt. Ihr habt Steine geschmissen. Ihr habt Flaschen geworfen. Ist jetzt halt so.

Leah und Andrea schildern, dass erst nach längerer Zeit über einen Lautsprecher mitgeteilt wurde, dass alle in Gewahrsam genommen worden seien. Dies bestätigt die Polizei. Bei der Identitätsfeststellung sei außerdem allen einzeln gesagt worden, warum sie in Gewahrsam genommen worden seien. Leah und Andrea sagen, ihnen habe man nichts gesagt. Auch die anderen drei seien sich nicht sicher gewesen, warum sie dort stehen.

Der Strafrechtler Nikolaos Gazeas, der Mitglied im Ausschuss für Gefahrenabwehrrecht des Deutschen Anwaltvereins ist – einem Ausschuss, der sich mit der hier relevanten Rechtsmaterie befasst –, sagt dazu: „Gewahrsam darf immer nur als letztes Mittel angewandt werden.“ Eine ganze Gruppe pauschal festzusetzen, von denen dann vielleicht die Hälfte an Ausschreitungen beteiligt ist, sei unzulässig.

Die 35 Menschen müssen mit dem Gesicht zur Wand stehen und die Hände heben, bis bei allen die Personalien festgestellt sind. So schildern es die fünf. Viele hätten sich nur mit ihren HVV-Karten ausweisen können, sagt Kerem. Erst ab 16 Jahren besteht in Deutschland eine Ausweispflicht. Ella und Carolin sollen immer wieder gebeten haben, auf Toilette gehen zu dürfen. Irgendwann habe Carolin Schweißausbrüche bekommen und sich hinsetzen müssen, obwohl ihr das nicht erlaubt gewesen sei. Erst dann bringen zwei Beamte sie auf die öffentliche Toilette im Hauptbahnhof. Ella hingegen darf nicht auf Toilette. „Ich hatte so etwas wie eine Panikattacke an der Wand“, erzählt sie. „Da waren so viele Menschen und ich hatte solche Angst, dass ich mir vor allen in die Hose machen muss.“ Erst nach ihrer Entlassung um halb eins darf sie die Toilette im Polizeikommissariat benutzen.

Sollten die Schilderungen von Ella und Carolin wahr sein, sei das Verhalten der Polizei „evident rechtswidrig“, sagt der Strafrechtler Nikolaos Gazeas. „Das grenzt an Schikane. Wer das als Polizeibeamter nicht erkennt, hat seinen Beruf verfehlt.“

Die fünf schildern, dass immer wieder Handys geklingelt hätten, keiner der Minderjährigen durfte seine Eltern informieren. Die Eltern wurden, solange die Gruppe an der Wand stand, auch nicht von der Polizei informiert. „Ich habe immer wieder gesagt, dass ich um zehn Uhr zu Hause sein muss und meine Eltern sich sonst Sorgen machen“, erzählt Kerem. Der Paragraph zur in Gewahrsamnahme von Personen sieht vor, dass die Erziehungsberechtigten von Minderjährigen „auf jeden Fall und unverzüglich“ benachrichtigt werden müssen. Die Polizeibeamten haben die Erziehungsberechtigten „unverzüglich nach Eintreffen an den Gefangenensammelstellen über die Ingewahrsamnahmen informiert“, heißt es in der Stellungnahme der Polizei. Also beim Eintreffen im Polizeikommissariat, da ist es bereits kurz vor 23 Uhr.

Nachdem alle Personalien aufgenommen, alle mit und ohne Maske fotografiert worden sind, und alles, was sie bei sich tragen, in Tüten gepackt ist, beginnt die Polizei mit dem Abtransport. Dafür habe man HVV-Busse und Funkstreifenwagen bereitgestellt, schreibt der Polizeisprecher. Leah steigt in einen Streifenwagen ein. Sie kommt auf ein anderes Polizeikommissariat als die meisten und wird dort aufgefordert, sich bis auf die Unterwäsche zu entkleiden. So erzählt sie es. Von den fünf, die mit ZEIT ONLINE gesprochen haben, ist sie die einzige, die das musste. Die Polizei kann dies im Einzelfall für notwendig halten, denn nur so könne man ausschließen, dass die Person gefährliche Gegenstände am Körper tragen. Leah kommt in eine Einzelzelle. Das Hamburger Polizeigesetz sieht vor, dass jeder, der in Gewahrsam genommen wird, unverzüglich einen Angehörigen oder Vertrauten benachrichtigen darf. Leah sagt, sie habe niemanden informieren dürfen.

Nach zwei Stunden sei Leah ohne weitere Erklärung oder etwas Schriftliches entlassen worden, erzählt sie. Warum sie bleiben musste und andere nach wenigen Minuten wieder gehen durften, ergebe sich laut Polizei aus „polizeitaktischen Erwägungen“. Unterschiedliche Maßnahmen könnten unterschiedliche Zeiträume in Anspruch nehmen, so die Polizei. Zu Einzelfällen äußert sie sich nicht.

Auf die Frage, nach welchen Kriterien entschieden wurde, wer wann und wie weggebracht wird, sagt die Polizei: „Die Einhaltung des Infektionsschutzes stand im Vordergrund.“ Carolin ist Asthmatikerin, darüber liegen ZEIT ONLINE Nachweise vor. Sie gilt als Risikogruppe für Covid-19. „Ella und ich hatten unsere Masken die ganze Zeit auf, ansonsten kaum jemand“, erzählt sie. Die Gruppe habe dicht an dicht gestanden, Abstandhalten war kaum möglich. Sie wird nicht alleine im Streifenwagen, sondern in einem der Busse weggebracht. Dies könne sich aus den zeitlichen Abläufen ergeben, sagt die Polizei, damit sei man auch nicht immer glücklich.

Für den Transport bekommen alle einen Mund-Nasen-Schutz von der Polizei. Ihren eigenen dürfen sie nicht benutzen. „Ich habe darunter kaum Luft bekommen“, sagt Carolin. „Ich habe dem Beamten im Bus gesagt, dass ich Asthma habe. Da meinte er, im Notfall solle ich sie absetzen. Toll, dann hätte ich vielleicht Asthma und Corona gehabt.“ Sie behält die Maske auf. „Wehe, hier hat jetzt noch jemand Asthma“, soll der Polizist noch gesagt haben.

Als die Busse das Polizeikommissariat 42 in Billstedt erreichen, bittet Kerem erneut einen Polizisten, seinen Eltern Bescheid sagen zu dürfen. Er darf. Es ist 22.59 Uhr, als er die Nummer seiner Mutter wählt und versucht, ihr die Situation zu erklären. ZEIT ONLINE liegt ein Screenshot aus der Anrufliste vor, seine Mutter bestätigt den Anruf. „Außer mir durfte das aber niemand“, sagt er.

Nach einer Stunde im Bus, schätzt Kerem, sei ein Polizist in den Bus gekommen und habe gefragt, ob jemand vierzehn sei. „Dann durfte ich die Tüte mit meinen Sachen nehmen und wurde an den Händen ins Kommissariat geführt. Ich habe mich gefühlt wie ein Schwerverbrecher.“ Er wird erneut fotografiert, die Personalien werden festgehalten, dann kommt er in eine Sammelzelle. Um halb eins darf er gehen und wird von seiner Schwester und ihrem Freund abgeholt. Die Polizei sagt dazu: „Bei minderjährigen Betroffenen dieser Maßnahmen musste vor der Entlassung geklärt werden, ob sie von den Eltern abgeholt, an den Kinder- und Jugendnotdienst übergeben oder selbstständig entlassen werden konnten.“ Alle seien nach und nach entlassen worden, als der Grund der Maßnahme entfallen war: „die Störungssituation in der Innenstadt“.

Carolin darf vor ihrer Freundin Ella den Bus verlassen. „Die Beamten haben mich hinter sich hergezogen, obwohl ich gesagt habe, dass mir schwindelig ist. Ich hatte Stunden nichts getrunken. Es hieß nur, ich solle mich beeilen, sonst müssen die anderen warten“, erzählt sie. Sie wird fotografiert, dann soll sie gehen. Bei Ella läuft es auch so. „Erst konnten sie uns gar nicht lange genug festhalten, dann sollten wir schnellstmöglich verschwinden“, sagt sie. Auch sie bekommen nichts schriftlich. „Wir wissen überhaupt nicht, was jetzt auf uns zukommt“, sagt Ella.

Am Montagnachmittag äußert sich der Polizeipräsident Ralf Martin Meyer im Hamburg Journal des NDR Fernsehens und nennt das Handeln der Polizei „sehr behutsam und sehr verhältnismäßig“. Er sehe „eher das Risiko, dass eine linksextremistische Organisation, die als Schwarzer Block diese Dinge angezettelt hat, diese Jugendlichen mit hineingezogen hat“. Der Polizeipräsident äußert sich auch dazu, wer dort festgehalten wurde: „Es ist ein Minderjähriger dabei gewesen, das sieht man natürlich am Anfang nicht, der ist dann seinen Eltern übergeben worden.“ Dies widerspricht den Informationen der Polizei, es seien insgesamt 15 Minderjährige unter den Festgehaltenen gewesen, darunter ein 13-Jähriger, juristisch gesehen ein Kind und damit strafunmündig. Auf Nachfrage von ZEIT ONLINE heißt es von der Polizei, es handle sich um eine „sprachliche Ungenauigkeit“.

Bislang konnte keiner der 35 Personen eine konkrete Straftat zugeordnet werden, schreibt der Pressesprecher der Polizei. Weitere Ermittlungen laufen. Und nicht nur das: Mitte der Woche hat die Polizei begonnen, alle Personen, die unter das Jugendstrafrecht fallen, zu Hause aufzusuchen. Kerem erzählt, er habe am Donnerstag die Tür geöffnet, dort standen zwei Beamte und wollten mit ihm über die Geschehnisse von Samstag sprechen. Man wolle präventiv vorgehen und die Jugendlichen darauf hinweisen, dass es auch schon eine Straftat sein kann, in einer Gruppe mitzulaufen, aus der heraus Straftaten begangen werden, sagt der Polizeisprecher auf Nachfrage. Auch um Fragen zu klären, seien die Beamten da. Zum entschuldigen käme man aber nicht. Kerem findet das nicht ausreichend. Er hat ein Gespräch abgelehnt.