Lovestory

Zwei Männer verlieben sich, kein Problem. Zwei katholische Priester verlieben sich, Katastrophe. Oder nicht? Die Geschichte eines langen Weges

Christ & Welt, 4. November 2020

Es ist November 1994, als Christoph Schmidt das Erzbistum Paderborn anruft, um sich nach der Nummer eines Mannes zu erkundigen, den er vor ein paar Tagen kennengelernt hat. Norbert Reicherts war ihm direkt aufgefallen, wie er da saß, auf dem Tisch des Pfarrsaals, mit seinen langen Haaren. Sie hatten sich ein wenig unterhalten, nicht lange, doch als der Abend zu Ende ging, fragte Reicherts Schmidt, ob er ihn mit dem Auto mitnehmen könne. Es regnete in Strömen auf der Fahrt, eine Stunde redeten sie durch. Als der eine den anderen absetzte, vergaßen sie, Nummern auszutauschen.

All das erzählt Christoph Schmidt nicht, als er mit dem Bistum telefoniert. Denn der Abend in Brühl war ein Treffen zweier Gruppen, die gemeinsam für die Rechte Homosexueller in der Kirche kämpfen wollen. Die beiden Männer sind Priester. Und sie sind schwul.

Es ist ein warmer Spätsommertag, als Christoph Schmidt von diesem Abend vor rund 15 Jahren erzählt. Er sitzt im Garten hinter dem kleinen Haus im Kölner Osten, neben ihm sitzt Norbert Reicherts. Zwischen ihren Füßen liegt eine kleine, schwarz gepunktete Hündin. Sie wollen ihre Geschichte erzählen. Sie handelt von Liebe, von Zweifeln und Kämpfen, aber sie beginnt bei ihrem Glauben.

Christoph Schmidt kommt 1962 in Bochum auf die Welt. Er wächst in einer katholischen Familie auf, wird getauft, geht zur Kommunion, glaubt an Gott und liest schon als Jugendlicher gerne die Bibel. Was er dort liest, legt er für sich selbst strenger aus, als er es in seiner Familie beigebracht bekommt. Das gibt ihm Halt. Er weiß früh, dass er schwul ist, und will es nicht sein. In seiner Familie wird darüber nicht gesprochen, in seinem Umfeld auch nicht. Gibt es nicht, darf es nicht geben. Es sind die Siebziger, Sex unter Männern kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Als es Zeit wird, zu überlegen, was er nach der Schule machen möchte, hat er zwei Ideen: Er würde gerne irgendwann Sopranistinnen am Klavier begleiten – oder Priester werden. Dann wird zumindest niemand fragen, warum er nicht heiratet. »Ich habe gedacht, die Seelsorge wird mir Spaß machen«, sagt er.

Dann verliebt sich ein Mädchen in ihn, Schmidt will es probieren. Eine Woche sind sie ein Paar. »Die Woche war die Hölle«, sagt er heute. Dann trennt er sich von ihr. Ihr zu sagen, dass er schwul ist, traut er sich nicht. Er schiebt den Priesterberuf vor. Mit 19 beginnt Schmidt das Studium der katholischen Theologie in Bochum.

Die katholische Kirche unterscheidet zwischen homosexueller Neigung und Handlung, Ersteres ist gerade noch in Ordnung. Ein schwuler Mann wird geduldet, solange er keinen anderen Mann küsst. Das gilt allerdings nicht für Priesteramtskandidaten. 1961 verordnete die vatikanische Kongregation für die Ordensleute, dass allen das Priesteramt verwehrt bleiben soll, »die Homosexualität praktizieren, die tief sitzende homosexuelle Tendenzen aufweisen oder eine sogenannte homosexuelle Kultur unterstützen«. Das gilt bis heute, auch wenn Papst Franziskus 2014 öffentlich erklärte, er werde über homosexuelle Priester nicht urteilen. Kürzlich forderte Franziskus sogar, eingetragene Lebenspartnerschaften rechtlich zu schützen, dafür habe er sich als Kirchenoberhaupt eingesetzt.

Spricht man Christoph Schmidt und Norbert Reicherts auf diesen Vorstoß des Papstes an, sagen sie nur: »Franziskus möge sich bitte aus weltlichen und staatlichen Dingen heraushalten, solange er in seinem eigenen Staat nicht das Sakrament der Ehe für homosexuelle Paare öffnet.« Manchmal scheint sie auch heute noch auf, ihre tiefe Enttäuschung über die katholische Kirche.

Vor rund 40 Jahren hoffte Christoph Schmidt als Student, dass das Theologiestudium die Probleme lösen wird, die er mit seiner Sexualität hat. Stattdessen erlebt er dort, wie seine Mitstudenten die Bibel und das Studium weit weniger ernst nehmen als er. Nicht alle, aber einige. Ihm gefällt das nicht, er ist viel konservativer als die anderen jungen Männer und erwartet, dass die anderen mit sich genauso streng sind. Seine Mitstudenten sehen das mit dem Zölibat nicht so eng, man verheimlicht seine Beziehung eben. Für Schmidt sei das undenkbar gewesen. »Ich wollte wahrhaftig sein, ganz oder gar nicht.« Heute wisse er, dass unter den Kommilitonen weitere schwule Männer waren. Damals sprach man nicht darüber. Trotzdem schafft auch Schmidt es nicht, so streng und vorbildlich zu sein, wie er möchte: Er hat Sex mit einem Mann. Er erschrickt vor sich selbst, und als die kurze Beziehung endet, sieht er darin ein Zeichen: »Das sollte nicht sein. Das war der Beweis.« Er verbietet sich die eigene Sexualität. Als er das Zölibatsversprechen spricht, ist er sich sicher: Das ist jetzt für immer.

Norbert Reicherts kommt 1964 in Wanne-Eickel auf die Welt. Seine Familie ist katholisch, er wird getauft, empfängt die Kommunion. Schon als Kind will er Priester werden, lange Gewänder gefallen ihm. Als er sich zu Weihnachten eine Puppe wünscht, gibt es Streit zwischen seinen Eltern und den Großeltern. Ein Junge hat nicht mit Puppen zu spielen, finden die Alten. Reicherts bekommt die Puppe. »Ich war als Kind schon anders«, sagt er heute. Wenn das Fernsehballett tanzte, tanzte auch er. Seine Eltern liebten ihn. Nur den Puppenwagen, den er sich im Jahr darauf wünschte, bekam er dann doch nicht. Er wusste, dass er schwul war, und wahrscheinlich wussten es auch seine Eltern. Sie sprachen nicht darüber, so schien alles in Ordnung zu sein.

Norbert Reicherts engagiert sich in der Jugendarbeit und merkt, dass ihn nicht nur die Gewänder, sondern auch die Arbeit mit Menschen begeistert. Mit 21 beginnt er das Studium der katholischen Theologie in Paderborn. Seine dunkelblonden Locken reichten ihm damals über die Schultern, er trug einen Ohrring und spazierte barfuß durch Paderborn. Er malte Bilder, »homoerotische«, sagt er, und hängte sie im Wohnheim auf. Seine Mitstudenten zerstechen die Bilder, doch niemand sagt etwas. Er lernt im Priesterseminar jemanden kennen, sie werden ein Paar. Am Abend vor der Diakonatsweihe trennen sie sich, am Abend danach sind sie wieder zusammen.

Für Reicherts scheinen andere Regeln zu gelten als für die anderen. Vor der Weihe haben die Priesteramtskandidaten eine Audienz beim Papst. Als er dort steht, mit den langen Haaren und dem Ohrring, bleibt Papst Johannes Paul II. stehen und sagt zum Chef des Priesterseminars: Der junge Mann hat aber lange Haare. Dann geht er weiter. Keine Konsequenzen. »Immerhin bin ich ihm aufgefallen«, sagt Norbert Reicherts heute und lacht. Die Haare blieben lang und während andere ihren Ohrring rausnehmen müssen, verlangt das von Norbert Reicherts niemand. Was wirkt wie Provokation, erklärt er mit Naivität: »Ich habe mir nichts dabei gedacht. Dass jemand damit Probleme haben könnte, kam mir nicht in den Sinn.« Als er das Zölibatsversprechen spricht, ist er sich sicher: Der Zölibat ist menschengemacht, den muss man nicht so streng sehen.

1990, ein Jahr nach seiner Priesterweihe, arbeitet Christoph Schmidt als Kaplan in Essen, als sein Vater stirbt. Der Tod des Vaters ist ein Neuanfang für den Sohn. Der Druck, die Strenge, es ist alles verschwunden. Er geht in Kneipen, in denen sich schwule Männer treffen, probiert sich aus. Er bricht den Zölibat, das Gefühl von Freiheit ist wichtiger. Mit Anfang dreißig erlebt er, was andere in der Pubertät erleben. Er spricht mit seinen Geschwistern, mit seiner Mutter, steht öffentlich zu sich. Die Geschwister finden es in Ordnung, die Mutter kämpft. Schmidt ist schwul und lebt es. Und doch weiß er, dass das nicht ewig so gehen kann: Ganz oder gar nicht, heimliche Beziehungen kommen für ihn immer noch nicht infrage.

Kann man die Bibel predigen, wenn man selbst nicht danach lebt? Norbert Reicherts sieht auch das nicht so streng. Dass seine Art zu leben, zu lieben von der Kirche nicht gewollt ist, ändere nichts daran, dass Gott ihn liebe, habe er gedacht. Zu ihm kommen Paare, die zum zweiten Mal kirchlich heiraten wollen. Er prüft, ob die erste Ehe kirchenrechtlich ungültig ist, fast immer findet er etwas. Das ist wie Mathe, sagt er, man muss nur beweisen, dass der Priester das Wort falsch ausgesprochen hat. So ist es im Kirchenrecht festgeschrieben. Während Norbert für andere das Kirchenrecht zum Guten deuten kann, geht das für ihn nicht. Frei ist er nur, solange er nicht darüber spricht, wen er liebt, dass er überhaupt liebt. Was für eine Freiheit ist das?

Es ist Anfang der Neunziger, als sich etwas rührt in der Kirche. Immer mehr Priester wollen ihre Sexualität nicht mehr verstecken. In mehreren Bistümern bildeten sich kleine Gruppen, die wollten, dass sich die Dinge ändern. Man erzählte sich davon heimlich und nur denen, bei denen man sich sicher war, dass sie den anderen nicht anschwärzen, erinnern sich die beiden Männer. Homosexualität gilt als Weihehindernis. So hatte es der Vatikan festgelegt. Die Gruppen wollten nicht, dass der Zölibat gelockert wird, sie wollten sich bloß nicht mehr verstecken. Denn auch ein heterosexueller Priester ist nicht ohne sexuelle Wünsche – lebt er im Zölibat, lebt er sie bloß nicht aus.

Norbert Reicherts, inzwischen Vikar in Hamm, erfährt ebenfalls von den Gruppen. Doch in seinem Bistum in Paderborn findet sich keine Gruppe zusammen. Reicherts ist eh gerne in Köln, landet 1991 einmal aus Versehen, weil er sich verfahren hat, mitten im ersten Kölner Christopher Street Day, und als er hört, dass es eine große Gruppe gibt, die sich zwischen Köln und Aachen organisiert, geht er hin.

Christoph Schmidt arbeitet immer noch in Essen, nach und nach formiert sich auch hier eine Gruppe. Sie schaltet eine Anzeige im »Publik-Forum«, einer katholischen Kirchenzeitschrift, die vor allem die offeneren Geistlichen lesen, in der sie nach Gleichgesinnten suchen. »Schwul und Priester – na und?! Solidarisch miteinander Ängste überwinden und Mut zum Leben finden. Wir trauen uns endlich, uns in einer Gruppe im Bistum Essen zu solidarisieren. Wir freuen uns, wenn du mitmachst. Melde dich!«

Nach dem ersten Treffen in Essen wollen sie wissen, was andere Gruppen machen, was sie planen. Also fährt die Essener Gruppe am 20. November 1994 nach Brühl. Als Christoph Schmidt den Pfarrsaal betritt, sitzt Norbert Reicherts auf dem Tisch. Schmidt ist fasziniert von dem jungen Mann mit den langen Haaren, der so anders ist als die anderen Priester. Doch sie beide sind nicht hier, um sich kennenzulernen, sondern um ihren Kampf zu planen, sie tauschen Ideen aus, aber sprechen wenig über sich. Hätte Norbert Reicherts am Ende des Abends nicht gefragt, ob jemand in seine Richtung muss, wäre vermutlich nie etwas passiert.

»Es hat wie bekloppt geregnet«, erzählt Norbert Reicherts, »und Christoph ist viel zu schnell gefahren.« »Dass du so eine Angst hattest, das habe ich ja erst viel später erfahren«, sagt Schmidt. Er setzt Reicherts in Dortmund ab, obwohl er bis nach Hamm muss. Reicherts findet das blöd, muss er nun doch noch durch den Regen. Schmidt hält das für angemessen. Er sei niemand, der jemanden sofort nach Hause bringe und selbst noch mitkomme. »Und außerdem wusste ich ja gar nicht, in welches Kaff du da eigentlich musst«, sagt Schmidt auf der Terrasse ihres Hauses zu Reicherts.

Nach der Autofahrt ist Schmidt neugierig auf diesen Kerl, der so anders denkt, als er es kennt. Der ein freies Verständnis der Bibel hat, der überhaupt so viel Freiheit ausstrahlt. »Wie er wohl wohnt? Was er wohl sonst so macht?«, habe er sich gefragt. Er ruft im Bistum Paderborn an und lässt sich die Nummer geben. Dieses Mal fährt er zu ihm nach Hause, sieht die WG, die Reicherts im Pfarrhaus mit einem evangelischen Geistlichen gegründet hat. Sie sind unterschiedlich, doch ihr Kampf verbindet sie. Zwei Tage später küssen sie sich zum ersten Mal.

Sie sehen sich fortan, so oft sie können. Alles ist neu und aufregend, sie sind verliebt. Sie wissen nicht, wie es weitergeht, aber dass sie es versuchen wollen, ist klar. »Ich hatte Angst«, sagt Norbert Reicherts. Nicht weil er Priester ist, weil er den Zölibat versprochen hat, er hat Angst, dass es nicht funktioniert, dass sein Herz bricht. Christoph Schmidt hingegen fühlt sich unverwundbar, als gäbe es keine Angst. Er kauft sich eine Lederhose, trägt sie in der Kirche, lässt sich einen Ohrring stechen. Ihm doch egal, wer ihn entdeckt. Predigten arbeiten sie gemeinsam am Frühstückstisch aus. »Es war noch nie so leicht«, sagt Christoph Schmidt.

1996 soll Norbert Reicherts versetzt werden: von Hamm nach Lage im Kreis Lippe, 150 Kilometer weit weg von seinem Freund. »Was ein Drama«, sagen beide. Er wehrt sich. Er sei mehr der Ruhrpott-Typ, dem Ruhrbistum ohnehin viel näher als dem in Paderborn. Ein Jahr später bekommt er eine Stelle in Dortmund. Er ist gerade mit dem gemeinsamen Hund spazieren, als er den Anruf erhält. »Ich stand auf einem Hügel in der Nähe von Christophs Wohnung und guckte auf genau die Kirche, in der ich nun arbeiten würde«, erzählt Norbert Reicherts. Sie sind sich ab diesem Moment ganz nah.

Dass ihre Beziehung von der Kirche verboten ist, sei ihnen egal gewesen, sagen beide. Und den anderen scheint es auch egal zu sein. Wenn Schmidt den Pfarrer aus Reicherts Gemeinde auf dem Markt trifft, lässt dieser Grüße ausrichten. Solange die beiden nicht öffentlich darüber reden, darf es sein. »Katholische Moral«, sagen sie heute. Schmidt wird übermütig, er spricht im Kommunionunterricht über den ersten Samenerguss, schließt Lesben und Schwule in seine Fürbitten ein. Irgendwann muss er zum Personalchef, der darüber sprechen will, seit wann Schmidt einen Ohrring trage und was sein Autokennzeichen zu bedeuten habe: BO-YS. »Das war eine Drohung, ohne sie auszusprechen«, sagt er.

Trotzdem verloben sich die beiden Männer 1997. In der Kirche dürfen sie nicht heiraten, und auch die Standesämter schließen Ehen nur zwischen Mann und Frau, egal. Zur Verlobung feiern sie ein großes Fest im Garten des Pfarrhauses in Dortmund, pflanzen einen Ginkgobaum, über den hatte Goethe einst ein Gedicht geschrieben. Die letzten Zeilen stehen in der Anzeige, die sie in der »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung« schalten: »Fühlst du nicht an meinen Liedern, dass ich eins und doppelt bin? Christoph & Norbert«.

Was ist stärker? Die Treue zur Kirche oder die Liebe zueinander?

Alle sechs Monate geht das Paar besonders lang spazieren. Stundenlang darf erst der eine erzählen, was ihn bewegt, dann der andere. Die beste Paartherapie, sagen sie und lachen. Während sie spazieren, reden sie darüber, ob sie ihre Ämter in der Kirche aufgeben wollen. Beide merken, dass sie ihren Gemeinden vielleicht zu viel Toleranz abverlangen, dass sie vielleicht zu viel sie selbst sind. Sie beschließen, dass sie nun ein halbes Jahr lang nicht darüber reden, dass jeder die Entscheidung ganz für sich allein treffen muss und dass es okay wäre, wenn einer geht und einer bleibt.

Die Gruppen, die sich für schwule Priester engagieren, gibt es immer noch, doch es passiert wenig. Zweimal treffen sich homosexuelle Priester aus ganz Deutschland, einmal in Köln, einmal in München, 150 seien das gewesen, sagen sie. Sie überlegen, ob sie sich alle an einem Sonntag auf ihre Kanzeln stellen, sagen, dass sie schwul sind. Sie lassen es. Schmidt und Reicherts geben dem »Spiegel« 1997 anonym ein Interview. Die Bistümer stellen Nachforschungen an, wer in ihren Gemeinden schwul sein könnte. Es verändert sich fast nichts und wenn, dann nicht zum Guten.

Ihren Kampf haben sie gut dokumentiert: drei dicke Ordner, jedes Schriftstück, jeder Artikel. Sie liegen auf dem Tisch, als Schmidt und Reicherts all das erzählen. Hin und wieder zeigen sie mal etwas. »Die Folge unserer Bemühungen war, dass Priesteramtskandidaten heute nach ihrer Sexualität gefragt werden«, sagt Schmidt. Sie wollten die Regeln lockern, stattdessen verschärfte die Kirche sie.

Beim nächsten Spaziergang wollen beide die Kirche verlassen. Schmidt will endlich seine Liebe nicht mehr verheimlichen, wahrhaftig sein, ganz oder gar nicht. Reicherts will das auch, aber er hadert vor allem mit seiner Rolle als Priester: Immer wieder habe er Paare trauen müssen, die nur für ihre Eltern heiraten. Er habe Kinder getauft, weil die Eltern sie in einen katholischen Kindergarten stecken wollten.

Ihr Neuanfang soll ein echter sein: neue Stadt, andere Jobs. Reicherts findet eine Stelle als Therapeut in einem Altenheim, Schmidt wird pädagogischer Leiter in einem Heim für Suchterkrankte. Sie entscheiden sich für Köln, setzen sich mit einer Karte in den Mülheimer Park und überlegen, wo sie nach Wohnungen gucken können.

Als das Sicherheitsnetz gespannt ist, wagen sie den Sprung. Im Herbst 1998 gehen sie zu ihren Bischöfen, sagen, dass sie schwul sind, dass sie nicht mehr als Priester arbeiten werden. Schmidt wird eine dreimonatige Auszeit nahegelegt, danach sehe alles sicher anders aus. Als Reicherts von seinem Frust über Taufen für Kindergartenplätze und Ehen den Eltern zuliebe spricht, habe sein Bischof gesagt, das hätte er früher wissen können. Reicherts und Schmidt kündigten, wie sie es nennen. Es fällt ihnen leicht, auch, weil sie es gemeinsam machen. 2004 lassen sie sich als Lebenspartner eintragen. Sektempfang auf dem großen Platz am Kölner Rathaus, nur wenige Minuten vom Dom entfernt. Danach feiern sie ein großes Fest am Rhein unter den hohen Bäumen am Ufer.

Und sie beginnen wieder, als Priester zu arbeiten, frei und abseits von Konfessionen. Sie trauen Paare, begleiten Sterbende. Sie machen das, was sie in der Kirche auch immer gemacht haben. Sie nennen sich jetzt freie christliche Priester. Die Kirche glaube, bei einer Weihe handle Gott selbst, deswegen könne ihnen niemand die Weihe nehmen.

Die Geschichte von Christoph Schmidt und Norbert Reicherts klingt so harmonisch, man mag es kaum glauben. Es scheint, als habe sie der gemeinsame Kampf, der Konflikt, den jeder mit seinem Glauben ausmachen musste und der sie doch einte, unendlich zusammengeschweißt. Vielleicht haben sie so viel aufgegeben, so viel auf sich genommen für ihre Liebe, dass sie deswegen nicht infrage gestellt wird. Vielleicht, und das ist doch das Wahrscheinlichste, haben sich da einfach zwei Menschen gefunden.

Als Papst Benedikt XVI. 2011 nach Berlin reist, veranstalten sie einen Gottesdienst, zu dem sie explizit die einladen, die in der katholischen Kirche nicht willkommen sind: Homosexuelle, Geschiedene, Wiederverheiratete. Die Kirche fühlt sich provoziert. Ihre alten Bistümer leiten die endgültige Versetzung in den Laienstand ein, eine Suspendierung, beschlossen im Vatikan. Eine Strafe, eigentlich geschaffen für die, die Kinder missbrauchen. Die Ordner im Regal von Schmidt und Reicherts werden immer dicker. Ob sie tatsächlich suspendiert wurden, wissen sie bis heute nicht. Den letzten Brief des Vatikans schicken sie ungeöffnet zurück. Es war egal geworden.

2020. Seit rund einem Monat arbeiten beide zusammen, zum ersten Mal so richtig. Zwei halbe Stellen als Seelsorger. Sie begleiten Sterbende, die ihre letzten Antworten nicht in einer Konfession suchen wollen. Die, die aus der Kirche ausgetreten sind, die, die nie drin waren, und die, die nie willkommen waren. Für drei Jahre werden ihre Stellen gefördert: »Damit sind wir die ersten konfessionsfreien Seelsorger in Deutschland«, sagt Christoph Schmidt.

Als Christoph Schmidt und Norbert Reicherts sich als Teenager entschieden haben, Priester zu werden, glaubten beide, dass die Seelsorge sie erfüllen wird. »Endlich machen wir das, wofür wir angetreten sind«, sagt Christoph Schmidt heute. Sie sind angekommen. Sie machen es nach ihren Regeln.