Der alte Mann in meinem Club

Auf Berliner Partys nennen sie ihn Komet Bernhard. Julia Kopatzki will wissen, was ihn in die Nacht treibt

DIE ZEIT, Ressort Z, 11.07.2019

Erst wenn es dunkel ist, kann man den Kometen sehen. Er fliegt durch die Nacht, hält, ohne anzukommen. Ab zwölf geht es los, ab zwei wird es gut, hat er gesagt.

Es ist kurz nach zwölf, als der weiße Kombi in der Ritterstraße in Berlin-Kreuzberg vorfährt. Auf dem Dach ist das rostige Innenleben einer Federkernmatratze befestigt. Seine Kunst, er findet das schön. Die Tür öffnet sich, ein kleiner Mann steigt aus, mit langem weißem Bart und weißen Haaren, von denen nur noch wenige am Rand seiner Glatze übrig sind.

Die Türsteher des Clubs namens Prince Charles winken ihn vorbei, er winkt jungen Frauen, die kichernd an ihren Zigaretten ziehen. Er schlängelt sich zur Garderobe, der Mann dahinter schwingt sich über den Tresen und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Hallo, mein Lieber. Unter den blitzenden Deckenlichtern entlang, vorbei an all den Schwarzträgern, die an ihren Bierflaschen nippen, hin zur Backstage. Er klopft an und drückt im selben Augenblick die Klinke.

»Wer bist du denn?«, fragt ein großer Kerl mit Afro, der in dem kleinen Raum steht.

»Ich bin der Komet Bernhard«, sagt er so selbstverständlich, als hätte man ihn nach der Uhrzeit gefragt.

Ein zweiter Mann springt zur Tür: »Bernhard! Du bist eine Legende!«

Komet Bernhard lächelt, die Männer geben sich die Hand wie alte Freunde. Dann geht er wieder. »Ich habe die noch nie gesehen«, sagt er.

Auf der Tanzfläche sticht Komet Bernhard aus der Masse heraus: Er klatscht in die Hände, trippelt, zappelt, gestikuliert, während sein Bart im Takt schwingt. Wenn er lacht, sieht man, dass er kaum noch Zähne hat.

So ist der kleine, alte Mann auch mir aufgefallen, vor Jahren auf einer Party in einem Club. Zwischen all den schönen jungen Menschen sah er aus, als wäre er einem Grimmschen Märchen entsprungen. Wer ist das denn, wollte ich von meinen Freunden wissen, die schon länger in der Stadt waren. Komet Bernhard, haben sie gesagt, so selbstverständlich, als hätte ich nach der Uhrzeit gefragt.

Man sah ihn auf Partys, in Musikvideos, auf Plakaten. Es gibt verwackelte YouTube-Videos von ihm, er spielte in Werbespots mit. Lokalzeitungen tauften ihn den Techno-Opa von Berlin. Komet Bernhard wurde zum Versprechen, dass das Leben nicht vorbei ist, wenn man 50 ist oder 60 oder 70, so wie er jetzt.

Die Nacht, die Party, der Exzess, alles ist untrennbar mit Eskapismus verbunden, mit Ausbrechen, vielleicht mit Vergessen. Doch irgendwann ist der Teenagerschmerz weggetanzt, Tinder wird gelöscht, stattdessen sucht man jetzt nach einer größeren Wohnung. So tauscht die Nacht die Feiernden verlässlich gegen neue aus, die ausbrechen, vielleicht vergessen wollen, die fragen, wer ist das denn, und auf den kleinen, alten Mann deuten, denn er ist immer noch da.

Für uns ist Komet wie ein alter Freund, den man gerne trifft – aber wer ist Bernhard? Man erzählt sich von einer Familie, die er mal gehabt haben soll, in einem vergangenen Leben.

Auf der Klingel des ockerfarbenen Mehrfamilienhauses in Kreuzberg steht Enste. Als Bernhard Enste wurde er am 8. August 1948 in Mainz geboren. Vor 20 Jahren kam er in Berlin an, in dieser Wohnung, die bis heute so günstig ist, dass seine 300 Euro Rente dafür reichen. Er verdient auch Geld mit Werbeverträgen, mit DJ-Gigs – er hat sogar einen Manager, der dafür sorgt, dass er nicht immer alles umsonst macht.

Er trägt ein buntes Hemd und ist eine halbe Etage nach unten geeilt, um mich zu begrüßen: »Julia. Mein Leben ist voller Julias. Ich bin Komet.«

Die 80 Quadratmeter sind vollgestopft bis unter die hohen Altbaudecken. Überall Holz, Latten, Eckstücke, Hunderte Bilderrahmen, eine gerahmte rote Perücke. »Das ist meine Kunst«, sagt er. »Ich mache Kunst aus Abfall.« Er führt mich durch die Wohnung: Keine Heizung, kein warmes Wasser, das brauche er nicht, duschen geht auch kalt.

Als Jugendlicher, so erzählt er seine Geschichte, war er Messdiener im katholischen Mainz, er, das zweite von sechs Kindern, und als man ihm mit 14 vorschlug, ins Kloster zu gehen, um dort eine Schreinerlehre zu machen, willigte er ein. Er lernte, wie man aus Holz Möbel macht und Bilderrahmen. Doch er lernte auch, dass die Religion nichts für ihn war, also schloss er mit 17 seine Lehre ab und verließ das Kloster.

In jedem Raum läuft andere Musik, Klassik, Techno, mal aus großen Boxen, mal aus einem Tischradio. Alles, was er weiß, was er irgendwo gelesen hat und wichtig fand, hat er in kleinen Büchern notiert. »Wer hätte denn ahnen können, dass es das Internet geben wird?« Daneben Wälzer über das alte Ägypten, Physiker, Philosophen, das Universum natürlich.

Er will bald einen Podcast machen, »Komets Sternstunde«, und über Wissenschaftler, über die Sterne und seinen Kosmos sprechen. So, wie er seinem Sohn als Kind vom Universum erzählt hat, ihm erklärte, warum es Tag und Nacht gibt und wie viele Sterne am Himmel stehen.

Früher streifte er jede Nacht durch die Clubs, jetzt nur noch, wenn die Party ihm gefällt. Wenn die Leute nett sind und wenn der Bass nicht zu dumpf ist, bleibt er auch mal 24 Stunden. Er genießt es, wenn er angesprochen wird. »Ich bin, weil ihr seid«, sagt er dann zu den jungen Feiernden, party people nennt er sie. Von den Getränkemarken, die ihm Clubbesitzer und DJs geben, holt er sich am liebsten Club Mate. Früher war er oft im Berghain, heute ist das Ritter Butzke sein Lieblingsclub. Da kennt er die Mannschaft, dort feierte er auch seinen 70. Geburtstag. 70 DJs, sieben Floors, ihm zu Ehren. In seiner Wohnung steht ein wenig Technik zum Auflegen. Seine Freunde haben ihm gezeigt, wie man Musikstücke aneinanderbastelt. Seitdem ist Enste manchmal auch noch DJ.

Weil er so viel über das Weltall sprach, haben seine Nichten und Neffen ihn irgendwann Komet getauft. Meistens nennt er sich auch selbst so, nur manchmal sagt er Bernhard. »Komet ist jemand, dem nichts passieren kann, der stirbt auch nicht. Aber Bernhard schon.« In Berlin ist er Komet, Bernhard hat er in Mainz gelassen.

Wenn er als junger Mann in Clubs ging, fand er das meist langweilig, immer nur Paartanz, erzählt er heute und zieht das Doppel-A so lang, als würde er gähnen. Er fuhr Motorrad, lag am Baggersee.

Als er mit 23 dann doch eines Nachts in einem Club in Mainz steht, sieht er Nicole, eine junge Französin. Sie nicken sich zu, sie tanzen, bleiben beieinander. Nicole hat eine kleine Tochter, und als er das vierjährige Mädchen am nächsten Morgen sieht, ist alles klar. »Ich war Papa«, erzählt er heute. »Aber Papa sein und Vater werden, das sind verschiedene Dinge.«

Vater wird Bernhard Enste, als 1979 sein Sohn Marceau auf die Welt kommt. Er erzählt ihm vom Universum, begleitet ihn in den Kindergarten und in die Schule. Er hat jetzt einen Laden, wo er Bilder und Rahmen verkauft, er hat Nicole, seinen Sohn, seine Tochter. Doch irgendwann ist ihm das alles nicht mehr genug. Er will Künstler sein, er will Freiheit. »Ich wollte mein Leben ändern. Nicht weil es schlecht war, sondern weil es noch besser ging.« Er ist 40, als er Nicole den Laden übergibt. Und loszieht.

Bernhard Enste reist durch die Welt, liest und lernt, das alte Leben in Mainz wird immer mehr zur fernen Erinnerung. Irgendwann, um die Jahrtausendwende, landet er in Berlin.

Sein Sohn Marceau, mittlerweile 20 Jahre alt, kommt ihn besuchen, fährt den ganzen Weg mit dem Auto seiner Mutter. Er muss seinem Vater etwas sagen. »Papa, Bernhard, ganz ruhig«, sagte er, »ich habe Krebs.« Ein Tumor im Knie.

Marceau lebt zu der Zeit in Heidelberg, dort wird er auch behandelt. Operationen, Chemotherapie, so oft es geht, pendelt Enste die 630 Kilometer. Er schläft im Auto oder im Zelt, ein Hotel wäre zu teuer. Mehr als zwei Jahre lang sieht er ihn kämpfen. Dann stirbt Marceau im Februar 2002.

Drei Jahre später, am Tag, an dem sein Sohn 26 Jahre alt geworden wäre, radelt Bernhard Enste in Berlin eine große Straße entlang, an seinem Fahrrad sind überall Blumen befestigt. Eine junge Frau, die draußen in einem Café sitzt, ruft ihn heran.

»Hallo Zauberer«, sagt sie. »Kannst du mir etwas zaubern?«

Er zögert: »Was möchtest du denn gezaubert haben?«

»Ballettschuhe«, sagt die junge Frau, die er als schön wie Nofretete beschreibt.

Er zieht Kreide aus der Hosentasche, hält einen jungen Mann an und sagt leise: »Die Frau denkt, ich sei ein Zauberer, und ich soll ihr Ballettschuhe zaubern. Kannst du welche malen?« Der junge Mann malt – und so lernen sich Bernhard und Monica kennen. Sie ist vier Jahre jünger als Marceau.

Solche Zufälle nennt er nicht Zufälle, sondern Synchronizität, wie der Psychologe Carl Gustav Jung. Komet sagt, er wünsche sich Dinge vom Universum, träume oder ahne etwas, und sie passierten. So sei es auch mit Monica gewesen, er habe sie sich gewünscht.

Was Bernhard Enste erzählt, klingt oft unglaublich, doch irgendwo gibt es immer jemanden, der die Geschichten bestätigt. In diesem Fall ist es eine unveröffentlichte Doku über ihn, in der er mit Monica, genauso schön, wie Bernhard Enste sagt, ihr Kennenlernen noch einmal für die Kamera nachspielt.

»Sie war jung und schön und hat mich ausgesucht«, erzählt er und grinst wie ein kleiner Junge. »Deswegen war sie auch immer frei, Eifersucht gab es nicht.« Sie bekommt einen Schlüssel zu seiner Wohnung, er erzählt ihr von seinem früheren Leben. Zehn Jahre lang bleiben sie zusammen. Er sagt bis heute: »Wir sind ein Liebespaar.«

In einem großen, weißen Haus, ganz in der Nähe des Rosengartens in Mainz, sitzt Bernhard Enste auf der Terrasse. Um ihn herum sind wieder Menschen, die seine Enkel sein könnten: Ersin und Tufan, Peter und Vicky, die Nacht hat sie zusammengewürfelt. Dass er am Ende doch immer wieder in seiner Heimatstadt landet – Zufall, Synchronizität –, liegt an zwei Mainzer DJs, die er in Berlin traf. Peter wiederum, dem das Haus gehört, lernte er vor einem Jahr in Barcelona kennen. Ersin kennt Enste seit fünf Jahren. Sie sind party people, aber im Gegensatz zu den Menschen in Berlin bleibt Enste bei ihnen, auch wenn es hell wird. »Ich traue mich fast nicht, es zu sagen«, sagt er: »Aber das hier ist mein Zuhause.«

Ersin sagt: »Er ist Familie. Unser Opa.« Früher hat er Enste in seiner WG auf der Couch schlafen lassen, wenn ihm Berlin zu viel wurde. Sie achten auf ihn, kümmern sich. Einmal brachte Ersin ihn zum Arzt, dazu müsse man ihn immer ein bisschen zwingen, sagt er. Deswegen fehlen ihm auch die Zähne: Angst vorm Zahnarzt.

»Hier ist er frei. Niemand will etwas von ihm«, sagt Ersin. »Hier kann er Opa sein.« Und wie das mit Familie so ist, sorgen sie sich: »Ihm reicht es langsam«, glaubt Ersin. Die Partys, das DJ-Sein, jetzt noch der Podcast: Er komme um die Welt, habe Bühne und Publikum, sagt Ersin, »aber er ist eben auch ein alter Mann. Er soll seine Ruhe haben.«

Während wir draußen sitzen und reden, spielt Bernhard Enste drinnen mit Adam, dem kleinen Sohn von Vicky. Heute Morgen hat er ihm erklärt, warum es Tag und Nacht gibt und dass Planeten sich drehen. Als ich nach den beiden schaue, ist Enste eingeschlafen. So wie Opas in Sesseln einschlafen, nur dass dieser Sneaker trägt und eine bunte Kappe.

Auch in Mainz geht es nicht ohne Partys, man geht bloß früher hin, um halb zwölf sind alle da: Ersin und Tufan, Peter, Vicky. In der Schlange flüstern Studenten:

»Komet Bernhard ist da.«

»Wer?«

»Komet. Der Techno-Opa.«

Die Party heißt Social Techno, sie sammeln für die Kinderkrebshilfe. Während sich das Uni-Gebäude langsam füllt, sitzt Enste draußen in einem Liegestuhl, holt den Flyer der Party aus der Brusttasche seines Hemdes und sagt: »Wie kann ich hier sein und nicht an Marceau denken? Ich wäre ja blöd.« Zum ersten Mal spricht er über seinen Sohn, ohne dass ich fragen muss.

»Nach der Diagnose hat sich alles verändert«, sagt er, nie mehr sei er so aufgewacht wie zuvor. Er erzählt, wie hart die Zeit war, die Sorge um sein Kind. Aber auch wie schön: »Ich habe erleben dürfen, wie stark mein Sohn ist. Ich habe erlebt, wie Liebe sein kann.«

Von drinnen wummert der Techno herüber, Bierflaschen klirren, jemand ruft »Eeeey, Komet!« Aber Bernhard Enste blickt nach oben in den klaren Nachthimmel.

Bevor sein Sohn starb, gab er seinem Vater einen Auftrag. »Die nächsten Blätter werde ich nicht mehr sehen«, sagte er. »Du musst sie für mich angucken.« Und als der nächste Frühling kam, sagt Komet, habe er die Blätter mit völlig neuen Augen gesehen. Er hat in Berlin gemacht, was ein 22-Jähriger machen würde, ein 23-Jähriger, ein 30-Jähriger. Ausbrechen, vergessen, sich verlieben.

Bernhard Enste schüttelt sich, steckt den Flyer in die Brusttasche und steht auf: »Ich will jetzt tanzen.«