Unheil

Eine Frau. Ein Mann. Ein trautes Heim

Von Félice Gritti und Julia Kopatzki

stern Crime, 01.10.2018

„Wir waren glücklich und unendlich froh, wir waren zusammen und liebten uns so.“

Der Mann muss jetzt los. Er greift nach den Tüten, Lidl, Kaufland, Rewe, die teuren, aus dem guten Plastik, mit dem festen Griff. Es sind keine fünf Kilometer, aber sein Gepäck ist schwer. Die Luft riecht nach Feuerwerk und Winter, Raketen steigen in den Himmel, leuchten für einen Augenblick die Nacht aus. Um zu Fuß an den See zu kommen, wird er über eine Stunde brauchen. Sein Weg führt vorbei am Spielplatz vor dem Haus, durch die Siedlung, in der sie seit einigen Jahren leben, in der die Nachbarn das neue Jahr feiern. Weiter durch den dunklen Park, durch das Industriegebiet, in dem in der Silvesternacht die Maschinen stillstehen. In der Ferne hört er Böller.

Der See liegt dunkel in der Nacht, elf Kilometer lang, an seiner tiefsten Stelle reicht er 31 Meter hinab, und wer ihn kennt, der weiß, dass hier Menschen verschwinden. Taucher, Badende, der See hat schon so manchen für immer verschluckt. Hoffentlich wird auch das Geheimnis des Mannes auf den Grund sinken und nie mehr auftauchen. Er steht auf dem alten Anleger, am Ufer recken sich kahle Bäume in die Nacht, verlassene Segelboote schaukeln auf den Wellen. Er ist angekommen.

Der Mann greift in die Tüte, zieht heraus, was er zu fassen bekommt, und schleudert es in den See. Die leeren Tüten wirft er ins Schilf, das Wasser wird die Spuren an ihnen schon wegwaschen. Durch die Dunkelheit geht er zurück. Er ist noch nicht fertig.

Als in der Einsatzleitstelle des Polizeipräsidiums Neubrandenburg der erste Notruf eingeht, sitzt Kriminalhauptkommissar Frank Taggesell mit einem gebrochenen Zeh zu Hause, er ist krankgeschrieben. Es ist der Neujahrstag 2012, 11.37 Uhr. Mit zitternden Fingern haben zwei Angler die 110 gewählt. Sie stehen am Ostufer des Tollensesees, an einem alten Anleger, und sie haben den Oberkörper einer Frau entdeckt. Bleiche Hautlappen treiben im dunklen Wasser.

Die Polizei sperrt den Fundort ab, ruft Beamte aus benachbarten Revieren und durchkämmt das Ufer, aus Schwerin rücken Polizeitaucher und eine Hundestaffel an. Gegen 15 Uhr der nächste Anruf: Am Nordufer des Sees, 20 Minuten Fußweg vom ersten Fundort entfernt, haben Spaziergänger zwei Arme entdeckt, angespült am Strand. Wenig später, etwa 250 Meter weiter, finden Polizisten das nächste Leichenteil. Die Beamten schicken alles in die Rechtsmedizin nach Greifswald und suchen weiter das Ufer ab, bis in die Nacht. Die Polizei findet an diesem Neujahrstag nur noch ein paar Plastiktüten. Sie sehen sauber aus. Das Landeskriminalamt in Rampe bei Schwerin soll sie trotzdem untersuchen.

Am nächsten Tag geht Kommissar Taggesell zum Arzt, lässt sich gesundschreiben und stellt die „Mordkommission Tollense“ zusammen, benannt nach dem kleinen Fluss, der in diesen großen See mündet, der seine Geheimnisse so gründlich hütet.

Der Mann hatte eine Frau. Das Paar heiratete jung. Sie war 18, er 19 Jahre alt. Die erste große Liebe, die einzige. 50 Jahre Ehe. Sie war Sekretärin, er Maschinenschlosser. Es war ein schönes Leben, ein friedliches.

Über dieses Leben schrieb die Frau ein Gedicht, nahm es auf. Eines Heiligabends überraschte sie ihren Mann mit dem Tonband.

Es gibt ein Video davon. In den 90er Jahren kaufte die Frau eine Kamera, seitdem filmte sie das Leben, konservierte es. Sie filmte ihren Mann, sie filmte die Wohnung, nur selten filmte sie sich.

Im Wohnzimmer strahlt ein Weihnachtsbaum, mit Lametta und kleinen Engeln behängt, auf der Couch sitzt der Mann. Als er merkt, dass die Kamera läuft, lockert er seinen Hemdkragen.

„Bin ich denn fotogen?“, fragt er, streicht sich das dunkle Haar aus der Stirn, rückt die Brille zurecht.

„Ja“, haucht sie.

Dann spielt sie das Gedicht ab. Es beginnt so:

„Kannst du dich erinnern, wie unser
erstes Weihnachtsfest war?
Brachtest mir ein Weihnachtsgeschenk
und wünschtest, dass auch ich immer an dich denk.
Schwörtest mir Liebe und Treue dazu, auch ich
war verliebt. Zur Verlobung gab’s nur Ringe aus Holz,
für Gold hat unser Geld nicht gereicht.
Und doch waren wir glücklich und unendlich froh.
Wir waren ja zusammen und liebten uns so.
Ich lernte basteln, kochen, nähen.
Wollte das größte Glück auf Erden dir geben.
Unsere Wohnung war klein, doch unsere Liebe sehr groß.
Wir hatten auch Fehler, doch darüber lachten wir bloß.
Bald hatten wir Söhne, drei,
da war um vier die Nacht vorbei.
Gingen beide arbeiten, den ganzen Tag,
abends wurden die Wohnung und Schulaufgaben gemacht.
Wie spielten, die Kinder so glücklich und froh,
wir waren zusammen und liebten uns so.“

65 000 Menschen leben in Neubrandenburg, es ist eine kleine Stadt und doch die größte im östlichen Mecklenburg-Vorpommern, diesem vergessenen Landstrich zwischen Berlin und Ostsee. Der Fund der Leichenteile spricht sich schnell herum, und schnell werden es immer mehr. Sie tauchen auf am Nord- und Ostufer des Sees, wo im Sommer Kinder baden. Es ist schnell klar, dass sie von ein und demselben Menschen stammen. Am 4. Januar, drei Tage nach dem ersten Fund, fragt die „Bild“: „Wer ist die Tote vom Tollensesee?“ Kommissar Taggesell weiß keine Antwort. Seine Leute klingeln bei den Bordellen der Stadt, gleichzeitig befragen sie mehr als hundert vorbestrafte Männer, doch niemand erregt den Verdacht der Ermittler, niemand weiß etwas. Niemand hat eine Frau als vermisst gemeldet.

Die Greifswalder Rechtsmedizin meldet sich: Die Leichenteile lagen höchstens einen Tag im Wasser, vielleicht nur wenige Stunden. Der Täter hat die Frau erst nach ihrem Tod zerstückelt, vermutlich mit einem großen Küchenmesser. Wie sie starb, ist unklar, vielleicht gibt es eine Verletzung am Kopf. Doch der Kopf fehlt, und so lässt sich auch das Alter kaum eingrenzen. Manches deutet auf eine junge Frau hin, anderes auf eine ältere. Sie war schlank und hatte mindestens eine Schwangerschaft erlebt. Es gibt keinen Hinweis auf Krankheiten. Die Mediziner wagen eine vorsichtige Schätzung, 25 bis 55 Jahre. Das LKA gleicht Vermisstenanzeigen ab und schaltet Interpol ein.

Kommissar Taggesell ist seit 34 Jahren Polizist, hat Dutzende Leichen gesehen, Dutzende Täter ermittelt, und er ahnt, dass dieser Fall besonders schwer wird. Taggesell fehlt der Anker jeder Mordermittlung: die Identität des Opfers.

Zur gleichen Zeit ziehen sich Alfred Waschkowski und sein Team in die Polizeischule Güstrow zurück, westlich von Neubrandenburg: keine Ablenkung, kein Feierabend, nur ein paar Stunden Schlaf pro Nacht. Waschkowski ist Leiter der Operativen Fallanalyse beim LKA Mecklenburg-Vorpommern, der oberste Profiler. Seine Analyse: Vermutlich ereignete sich die Tötung in einer Wohnung. Der Täter nutzte offenbar ein Messer, am Fundort lagen Plastiktüten – Utensilien, wie es sie in jedem Haushalt gibt. Der Täter könnte aus dem Umfeld des Opfers stammen, es könnte eine Vorgeschichte geben. Er hat die Leiche nicht einfach nur zerstückelt, um sie besser transportieren zu können. Er hat auch den Torso enthäutet, den Körper ausgeweidet, die Organe aufgeschlitzt. Bei der Zerstückelung, vermutet Waschkowski, hat sich etwas entladen.

Etwas Finsteres.

Der Baum strahlt hell. Leise läuft „Ihr Kinderlein kommet“. Weihnachten feiert das Paar allein, die Söhne sind erwachsen, haben inzwischen eigene Kinder. Der Mann trägt ein weißes Hemd und einen roten Pullunder, die Frau eine goldgestreifte Bluse.

„Liebling“, sagt der Mann, „nun komm aber mal zu mir.“

Sie umarmen sich, eng umklammert wünschen sie sich ein frohes Fest. Sie drücken ihre Nasen aneinander, nuscheln die Worte in den Mund des anderen. Die Frau sagt: „Ich wünsche dir, dass die nächsten 30 Jahre genauso schön werden.“

Der Täter hat die Leichenteile in Ufernähe entsorgt. Er warf sie einfach hinein, versenkte sie nicht, einige trieben oben, waren leicht zu entdecken. Er stand unter Stress, glaubt Waschkowski. Wahrscheinlich ging er mehrere Male an den See, immer an eine andere Stelle. Manche Fundorte erreicht man schlecht mit dem Auto, er muss zu Fuß oder mit dem Fahrrad gekommen sein. Der Profiler ist sich sicher: Der Täter kommt aus der Gegend.

Als Waschkowski mit seinem Team in Neubrandenburg ankommt, fängt Kommissar Taggesell ihn schon auf dem Parkplatz ab. Waschkowski präsentiert der Mordkommission seine Ergebnisse, der Vortrag dauert drei Stunden.

Der Mann liest die Schlagzeilen. Täglich berichten die Zeitungen über die Ermittlungen, sie schreiben, dass die Tote aus dem See vielleicht eine Prostituierte war.

Er muss etwas tun.

Die nächste Telefonzelle ist nicht weit. Es hat den ganzen Tag geregnet, aber die Nacht ist klar und kalt. Die Uhr zeigt zwanzig vor eins, es ist der 8. Januar, er hat sich die Worte zurechtgelegt. Er wählt.

„Polizeinotruf.“

„Irina Pablowski. 31. Polin, Hure. Wollte dem Dicken von Krakow das Geschäft abnehmen.“

Hastig legt er auf. Er geht weg.

Doch er findet keine Ruhe.

Der Mann sucht sich eine andere Telefonzelle, zwischen Bahngleisen und Bürogebäuden. Zu Fuß braucht er eine halbe Stunde. Es ist fast fünf Uhr morgens. Er wählt.

„Notruf der Polizei.“

Er stockt. „Irina Polanski. 31. Polin, Hure.“ Seine Stimme klingt müde. „Es war der Dicke.“

Sofort schickt die Polizei die Spurensicherung los, die Experten nehmen DNA-Proben vom Telefonhörer. Eine Aufnahme des Anrufs geht zum LKA Brandenburg, Spezialisten sollen die Sprache analysieren.

Kommissar Taggesell prüft indes den Hinweis des Mannes. In einem Nachbarort von Neubrandenburg findet er einen Mann, den man im Rotlichtmilieu „den Dicken“ nennt, der Kommissar forscht vier Tage lang, doch dann ist klar, was er schon ahnte: Der Mann hat mit dem Fall nichts zu tun.

Taggesell zweifelt jetzt kaum noch: Der nächtliche Anrufer und der Täter sind dieselbe Person. Am 18. Januar kommt das Gutachten vom LKA. Der Anrufer sei älter als 60 Jahre und stamme aus dem Süden der östlichen Bundesländer, sagen die Sprachanalytiker.

Profiler Waschkowski sagt: Der Täter hat seinen ersten Fehler begangen. Er hat sich verhaspelt. Erster Anruf: Irina Pablowski, vier Stunden später: Irina Polanski, für Waschkowski ein Zeichen der Verunsicherung. Wer falsche Fährten legt, hat Angst. Wer Angst hat, ist kein Profi. Waschkowski geht von einer Tötung im Affekt aus. Als der Täter die Leiche zerstückelte, um sie wegzuschaffen, muss ihn die Wut ein zweites Mal überkommen haben. Sonst hätte er Organe und Torso nicht derart zugerichtet.

Eine Woche ist der Mann nun schon allein. Die Wohnung ist still, der Herd bleibt kalt. Keine Küsse, keine Nähe. Auf der Bettseite der Frau sitzt jetzt eine Puppe. Sie waren nur selten getrennt.

Auch davon erzählt die Frau in dem Gedicht:

„Als du ins Krankenhaus musstest,
stürzte die Welt für mich ein.
Bekam hohes Fieber, war kränker als du.
Vom Himmel, da goss es, doch ich, ich fand keine Ruh.
Setzte mich aufs Fahrrad und fuhr kilometerweit,
um Kuchen zu bringen und bei dir zu sein.
Stand stundenlang vor’m Fenster, denn die Besuchszeit
war längst um.
Du schautest hinunter, das reichte ja schon.“

Der Mann lacht, blickt an der Kamera vorbei zu seiner Frau:

„Ich weiß noch, wie du pitschnass ankamst.“

Aufgrund der nächtlichen Anrufe kann Waschkowski zwei weitere Punkte auf seine Karte setzen. Bislang hatte er dort bloß die Fundorte der Leichenteile eingezeichnet und um jeden einen Radius von zwei Kilometern gezogen – dort, wo die Kreise sich überschneiden, verortet er die Wohnung des Täters. Nun zeichnet der Profiler zwei weitere Kreise um die Telefonzellen – und die Schnittmenge auf seiner Karte schrumpft. Waschkowski vermutet den Täter im Osten der Stadt. Es stehen dort auch einige Supermärkte: Lidl, Kaufland, Rewe.

Am 22. Januar ruft das LKA bei Kommissar Taggesell an: Das Labor hat zwei Spuren gefunden. An der scheinbar sauberen Lidl-Tüte vom Seeufer klebte die DNA des Opfers – und eine unbekannte männliche DNA, die mit der Probe aus der Telefonzelle übereinstimmt. Taggesell hat drei Wochen lang geschuftet, auch am Wochenende, viel gegrübelt, wenig geschlafen, jetzt feiert er den ersten Durchbruch: Die DNA des Täters ist ermittelt, er ist sich sicher.

Die Ermittler speisen die Gen-Spur in eine bundesweite Datenbank ein, erhalten 34 vorläufige Treffer und beginnen mit den Überprüfungen – passt einer der Treffer auch im Detail zu der Täter-DNA? Dafür müssen die Techniker frische Speichelproben der 34 Straftäter aus der Datenbank nehmen und die DNA in Feinarbeit mit den Spuren von der Lidl-Tüte und aus den Telefonzellen abgleichen. Das kann Wochen dauern, weiß Taggesell, er will nicht so lange warten.

Am 31. Januar lässt er die Sprachaufnahme des Anrufs im Radio und Fernsehen senden und auf einer Polizei-Hotline abspielen. Tausende Menschen rufen an, die Telefonleitung des Polizeipräsidiums bricht zusammen.

Die Ermittlungsakte wird dicker und dicker, doch die Identität des Opfers bleibt ein Rätsel. Taggesell durchsucht Neubrandenburg jetzt nach Frauen, deren Verschwinden womöglich niemand bemerkt hat: Alleinstehende, Rentnerinnen, Ausländerinnen. Die Beamten überprüfen 782 Frauen, besuchen sie, rufen sie an. Alle sind wohlauf.

Das exakte Ergebnis des DNA-Abgleichs kommt: Unter den 34 vorläufigen Treffern gibt es keine einzige tatsächliche Übereinstimmung.

Der Winter klingt aus, Taggesell ist noch immer nicht weitergekommen, und auf dem Mühlenteich, im Osten des Tollensesees, schmilzt das Eis. Am 28. Februar gibt es einen Plastiksack frei, darin ein rechter Ober- und Unterschenkel. Der linke Oberschenkel taucht wenig später auf, wieder im Tollensesee, an einem Bootsverleih. Die Rechtsmedizin schätzt die Größe des Opfers nun auf 1,60 Meter bis 1,65 Meter, das Alter auf über 50.

Der Mann sieht die Zeugenaufrufe, die überall in der Stadt hängen. 2500 Euro wollen sie zahlen, wenn der Hinweis zum Täter führt. In den Zeitungen schreiben sie von dem Anruf, das Fernsehen spielt den Mitschnitt ab. Es gibt eine Hotline, um ihn sich anzuhören. Sie fragen, ob jemand die Stimme kennt, seine Stimme. Sie haben die Beine seiner Frau im Teich gefunden. Wann werden sie ihn finden?

Es ist bereits Ende März, als Kommissar Taggesell zu seinem letzten Mittel greifen kann. Die Hürden sind hoch, das Amtsgericht Neubrandenburg hat fast zwei Monate über den Antrag beraten. Die Ermittler haben keinen Verdächtigen, aber sie haben die DNA des Täters, und nach der Analyse seiner Stimme und seines Bewegungsprofils haben sie eine Vermutung, wo er zu finden ist: unter Männern in Neubrandenburg im Alter zwischen 50 und 70 Jahren.

Taggesell will einen Massengentest. Betroffen wären 9582 Männer, 9581 Unschuldige, ein Schuldiger, sie alle sollen freiwillig eine DNA-Probe abgeben. Es ist das Schleppnetz verzweifelter Ermittler. Am 23. März stimmt das Amtsgericht Neubrandenburg zu.

Anfang April landet das erste Schreiben im Briefkasten des Mannes. Richterlicher Beschluss, Gentest, Aufklärung, Bitte um Mithilfe. Er wird nicht hingehen, er kann nicht. Aber wenn er nicht geht, werden sie genau deshalb auf ihn aufmerksam werden. Die Anrufe waren ein Fehler. Die Tüten waren ein Fehler. Der Plan funktioniert nicht.

Die Polizei errichtet in der ganzen Stadt Test-Stationen, lädt zunächst die Männer aus den Wohngebieten nahe der Fundorte, dann sind die Siedlungen in der Oststadt an der Reihe. 400 bis 500 Männer pro Tag, immer von Donnerstag bis Sonntag, der Druck auf Taggesell wächst, seine Anspannung auch. Die Tage vergehen.

Kein Treffer.

Rund zwei Wochen später zieht der Mann die zweite Ladung zum Gentest aus dem Briefkasten. Sie haben bemerkt, dass er nicht erschienen ist. Das Einkaufscenter, in dem die Männer aus der Oststadt ihre Probe abgeben sollen, liegt gleich um die Ecke. Er kann die Männer sehen, wie sie hineingehen, weiß, dass alle Tests ins Leere führen werden. Wer beide Briefe ignoriert, wird nach seinen Gründen gefragt.

Der Mann klingelt bei seinem Nachbarn, dem Einzigen, mit dem das Ehepaar hin und wieder sprach. Ob er den Briefkasten für ihn leeren könne, fragt er. Er fahre zu seiner Frau, die seit einigen Wochen ihre Schwester besuche. Danach wollen sie gemeinsam auf Kur, sagt er.

Auf einem karierten Ringblock schreibt er einen Brief. Vier Seiten, die von Liebe erzählen und von einem Versprechen. Er legt den Block mit dem Brief in die Schublade des Nachttischs. Irgendwann werden sie ihn finden, das weiß er.

Ein letztes Mal putzt er die Wohnung. Alles sieht aus wie immer: zwei Teller auf dem Küchentisch, zwei Kerzen, in der Mitte eine Schüssel. Als würden sie sich gleich zum Essen hinsetzen. Die zweite Ladung für den Gentest lässt er auf dem Tisch liegen. Der Mann greift sich eine Flasche Korn, zieht die Wohnungstür zu und geht.

Er hinterlässt ein Sammelsurium aus Kitsch. Eine Wohnung, in der kaum Platz zum Leben ist. Glasflakons, in Rot, in Grün, in Blau, immer doppelt. Statuen, Engel, Tiere, immer doppelt. Zwei Puppenmädchen bewachen den Eingang zum Schlafzimmer, auf den Nachttischen liegt Plastikobst, symmetrisch angeordnet. Überall stehen Pflanzen, aus Plastik. An den Wänden hängen Teller mit Blumenverzierung, in die Türrahmen sind Vorhänge aus Perlen gespannt.

Die Frau filmt den Mann. Er sitzt auf der Couch, vor ihm eine Dose Bier, hinter ihm eine blonde Puppe in einem pinkfarbenen Kleid.

„Meine Tochter und ich, wir erzählen uns“, sagt er und guckt zur Puppe.

„Steht dir gut, deine kleine Tochter im Hintergrund“, sagt sie. Der Mann gibt der Puppe einen Kuss.

„Fühlst du dich wohl in deiner kleinen, heilen Welt?“, fragt sie. Der Mann nickt und lächelt.

Es ist der 21. Juni 2012, Sommersonnenwende, und Kommissar Taggesells Hoffnung schwindet. Lagen er und seine Kollegen richtig? Ist der Täter wirklich aus Neubrandenburg, ist er wirklich zwischen 50 und 70 Jahre alt, wird er ins Netz gehen? 171 Tage ist es her, dass der erste Notruf einging, dass die ersten Körperteile im kalten Wasser des Tollensesees schwammen. Der Winter ist dem Frühling gewichen, der Frühling dem Sommer, und noch immer ist die Leiche ohne Kopf, die Tote ohne Namen, ihr Mörder unbekannt.

9182 Männer sind in den vergangenen Wochen zum Gentest erschienen, 6640 Proben wurden bereits abgeglichen, alle negativ. 400 Männer sind der Ladung nicht gefolgt, unter ihnen sind Verweigerer, Verzogene und Verstorbene, viele hat die Polizei schon überprüft.

Am 25. April sind die Ermittler auch in die Oststadt gefahren. Ihr Ziel: ein Plattenbau, neben einem Spielplatz. Sie wollten dort mit einem Mann sprechen, der auf seine zweite Ladung nicht reagiert hat. Er war nicht zu Hause. Er sei auf Kur, sagte der Nachbar. Mit seiner Frau.

Irgendwann brechen sie den Kontakt zu den Söhnen ab. Irgendwann auch zu allen anderen Menschen. Keine Freunde, keine Bekanntschaften, mit denen sie auf der Straße einen Plausch halten. Fast 20 Jahre leben sie isoliert in einer Zeitkapsel aus Kitsch. Sie mauern sich ein mit Nippes, in ihrer kleinen, heilen Welt.

Das Gedicht endet so:

„Wird schöne Stunden nur noch geben, das hoffe ich sehr.
Lass unsere heile Welt nicht zerstören, das wünsche ich mir.“

Er schaut zu seiner Frau und sagt: „Oh, das schenke ich dir.
Ich passe auf, dass da keiner stört.“

Es ist der 21. Juni 2012, und in der Einsatzleitstelle des Neubrandenburger Polizeipräsidiums klingelt ein Telefon. Aus einer Garage im Osten der Stadt dringt Gestank, sagt der Anrufer, der Geruch von Verwesung.

Eine Polizeistreife fährt hin und bricht die Garage auf, sie ist von innen abgedichtet mit schwarzer Plastikplane und Klebeband, dahinter steht ein silberner Ford Mondeo. In einem Korb an der Rückwand verrotten Äpfel, doch es sind nicht die Äpfel, die stinken.

Die Polizisten rufen Taggesell an, der Kommissar fährt sofort hin. Die Fenster des Ford stehen offen, im Tank ist nur noch Luft, und auf der Rückbank, neben einer leeren Flasche Korn, zerfressen von der Fäule vieler Wochen, liegt der Mann.

„Abschiedsbrief“ steht über den vier Seiten, die in der Schublade versteckt sind. Es ist seine Version der Wahrheit. Er schreibt von Liebe und Manipulation. Er hat alles für sie getan, sie hat ihm alles abverlangt. Mit den Kindern durfte er nicht mehr sprechen. Wenn sie angerufen haben, hieß es, er sei krank. Er hat mitgespielt, damit sie bei ihm bleibt. Sie hat ihn gezwungen zu lügen, sie hat ihn abgeschottet, in ihrer kleinen, heilen Welt.

Er schreibt von Reue und davon, dass er jetzt alles anders machen würde. Dass er nicht das Monster sei, das alle suchen. Er schreibt von ihrem schönen Leben, in dem es an nichts mangelte. Schöne Wohnung, tolles Auto.

Er schreibt von Krankheit und Angst. Von ihrer Angst vor dem Krankenhaus, ihrer Angst vor Krankheit. Er schreibt von einem Versprechen, das sie ihm abgerungen habe, das er nun einhalten müsse. Ein grausames und dummes Versprechen. Aber er habe sie doch so geliebt.

Er schreibt, dass es der Plan seiner Frau gewesen sei. Sie habe sterben wollen, er sollte ihr folgen. Beide oder keiner.

Als Kommissar Taggesell die Leiche des Mannes gesehen hat, hat sich das Puzzle gefügt. Er ist erleichtert, und er ist enttäuscht. Auf manche seiner Fragen wird er keine Antwort mehr finden.

Taggesell kontaktiert die Söhne des Paars: Schreibt der Mann in seinem Brief die Wahrheit? Die Söhne bestätigen, dass die Mutter den Vater isoliert hat, seit Jahren haben sie ihn nicht erreicht, irgendwann haben sie es aufgegeben. Gesehen haben sie ihre Eltern in den 90er Jahren zum letzten Mal.

Taggesell ruft bei der Krankenkasse der Frau an: War sie tatsächlich krank? Zumindest war sie seit Jahren nicht mehr beim Arzt gewesen. An den Leichenteilen waren keine Hinweise auf eine Erkrankung zu finden, der Schädel fehlt nach wie vor, die Todesursache ist bis heute nicht geklärt, vermutlich war es Gewalt gegen den Kopf oder Strangulation.

Waschkowski und Taggesell schauen die Videos an, lesen den Brief, wieder und wieder. Der Mann habe sich eine Legende zurechtgelegt, glauben sie, eine nachträgliche Rechtfertigung seiner Tat. Es sind ihre Mutmaßungen. Was genau in jener Silvesternacht geschehen ist, kann niemand mehr erklären.

Doch Waschkowski weiß: Wer einen Menschen ausweidet, wer einen Torso häutet und Organe aufschlitzt, der liebte diesen Menschen vielleicht, vor allem aber hasst er ihn. Wer einen Doppelselbstmord plant, der verwischt nach der Tötung des Partners keine Spuren. Waschkowski glaubt, der Mann habe die Isolation nicht mehr ausgehalten. Im Affekt habe er seine Frau getötet, im Zuge eines Streits. Er habe danach versucht, ohne sie zu leben.

Doch er ist gescheitert. Am Druck der Ermittlungen, sagt Waschkowski.

Und an seiner Einsamkeit.