Electro-Beats statt Orgelmusik, der Kinosaal als Kirchenschiff: Evangelikale Gemeinden brechen mit traditionellen Liturgien und ziehen immer mehr Menschen an. Geboten wird, was für die Zielgruppe funktioniert – die ist auffällig homogen
Tagesspiegel, Mehr Berlin, 14.07.2018
Der Weg zu Jesus ist leicht zu finden. Aufsteller weisen über das Gelände der Kulturbrauerei, vorbei an Street Food Trucks und Bierbänken, hinein ins Kino. Popcorngeruch mischt sich mit dem Mief der dicken Teppiche, die lange Treppe hinauf zu Kino 3 ist gefüllt mit Menschen, die einander umarmen und sich unterhalten. Es ist Sonntag, kurz vor eins, hier findet gleich der Gottesdienst von Hillsong Berlin statt.
An der Tür zu Kino 3 wartet Tini. Sie hat große Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Alexandra Maria Lara, trägt eine schwarze Lederjacke, roten Lippenstift, die blonden Haare hat sie zum Dutt gebunden. Die, die sie kennt, umarmt sie herzlich. Denen, die sie nicht kennt, stellt sie sich mit einem breiten Lachen vor: „English or Deutsch? Hi, ich bin Tini.“ Wer neu ist, wird platziert. Tini läuft die Reihen hinunter, stoppt hier und da, um die Neuen den Alten vorzustellen. Alle überschlagen sich vor Begeisterung: Tolle Jacke. Schöne Haare. Wunderbar, dass du hier bist.
Je näher man der Kinoleinwand kommt, desto voller werden die Reihen, desto euphorischer wirken die Menschen. Alle sind jung und hip: Männer mit Drei-Tage-Bart, Tattoos und Lederjacken, Frauen in Chiffonkleidern oder zerrissenen Jeans, in High Heels oder Sneakern. 300 Freunde, die sich mit Jesus im Kino verabredet haben. Menschen, die man in Berlins coolsten Clubs erwarten würde, eher nicht im Gottesdienst. Zu verkatert, um in die Kirche zu gehen? Hier nicht.
Hillsong Berlin gehört zu einer relativ neuen christlichen Bewegung im Protestantismus, die in vielen Ländern rasant wächst: den Evangelikalen. Im Mittelpunkt des Glaubens stehen Jesus und der Wunsch nach einer persönlichen Beziehung zu ihm. Anders als im Katholizismus und Protestantismus, in den die meisten als Baby hineingetauft werden, müssen sich die Evangelikalen als Erwachsene bewusst für Jesus entscheiden – und ihr Leben so ausrichten, wie sie glauben, dass Jesus es gewollt hätte. Während die Evangelikalen in den USA bereits zwischen zehn und 25 Prozent der Bevölkerung ausmachen, schätzt man, dass drei Prozent der Deutschen evangelikal sind. Aber: Es werden immer mehr. Bisher kannte man evangelikale Kirchen vor allem aus ohnehin christlichen Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg, wo neue Ausprägungen des Glaubens nicht weiter überraschen. Berlin hingegen hat den Ruf, ein gottloser Ort zu sein, die Menschen treten aus den Kirchen aus, nicht ein – eigentlich.
Die Evangelikalen zählen in Deutschland zu den Freikirchen: religiösen Gemeinden, die keine Körperschaft des öffentlichen Rechts sind und nicht durch Steuern finanziert werden. Um nicht völlig für sich zu stehen, organisieren sich viele dieser Gemeinden in Verbänden. In Berlin vereint der Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden 69 Gemeinden, viele davon sind evangelikal. Der Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden listet weitere 25 Gemeinden, dazu kommen etliche Freikirchen, die keinem Verbund angehören. Besonders bemerkenswert: Gerade die Evangelikalen sind meist keine zehn Jahre alt.
Es wird dunkel im Kino und auf der Leinwand zählt ein Countdown herunter: 3, 2, 1. Applaus donnert durch die Reihen, es blitzt. Menschen stürmen auf die Bühne. Die ersten Töne scheppern durch die Dunkelheit. Es werde Licht. Die Besucher sind von ihren Plätzen aufgesprungen, sie jubeln. Der Gottesdienst beginnt immer mit „Worship“, Verehrung und Bewunderung: Songs, die Jesus lobpreisen. Mit klassischen Kirchenliedern haben die nicht viel gemein: Pop, Rock, Electro, die fast zehnköpfige Band kennt keine Genregrenzen, nur der Text erinnert daran, dass das hier ein Gottesdienst und kein Rockkonzert ist. „Jesus loves me, this I know. I won’t forget the Bible says, that he loves me so“. Die Hauptperson ist immer Jesus, der Text wird auf die Kinoleinwand projiziert, alle singen mit.
Hillsong Berlin, die bis Juli noch Berlin Connect hießen, gehören zur Hillsong Church aus Australien. Eine sogenannte Megakirche, deren Gottesdienste allein in Australien mehr als 40 000 Menschen besuchen, weltweit sind es gut 100 000. Vier Ableger gibt es in Deutschland, seit 2008 hält die Berliner Gemeinde Gottesdienste ab. Zunächst in Clubs und Hotels, seit zwei Jahren füllen sie drei Mal am Sonntag das Kino 3 der Kulturbrauerei – einen Saal mit 450 Plätzen.
Die Landeskirchen haben zwar nach wie vor deutlich mehr Mitglieder als die Freikirchen, aber die wenigsten sind in ihren Gemeinden aktiv. In Berlin besuchen nur 2,5 Prozent der Mitglieder regelmäßig einen evangelischen Gottesdienst, bei den Katholiken sind es immerhin fast zehn Prozent. Der Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden vermeldet hingegen, dass durchschnittlich 88 Prozent der Mitglieder regelmäßig im Gottesdienst sitzen.
Mark Wilkinson bereitet sich in Reihe eins auf seinen Auftritt vor. Er setzt zum Sprint an, springt auf die Bühne. „Jesus is alive!“, schreit er. Früher war er Elektroingenieur in London, heute ist er Pastor von Hillsong Berlin. Am kircheneigenen College in Sydney hat er Theologie studiert. In Bomberjacke und Sneakern steht Mark Wilkinson vor zehn goldenen Strahlern, die Predigt wird von leiser elektronischer Musik begleitet. „Man fragt mich immer, warum hier so viele schöne Menschen sind. It’s because of Jesus!“ Tatsächlich sind die Menschen in diesen neuen Gemeinden auffällig attraktiv. Der Pastor spricht, seine Zuhörer jubeln. Ständig ruft jemand „Yeah!“ oder „Come on!“ Bleiben die Rufe aus, fragt er: „Is that okay?“ Auch an Stellen, wo die Frage gar nicht passt: „Jesus sagte, ohne mich seid ihr nichts – is that okay?“ Die Antwort ist immer Jubel.
Die Evangelikalen in Deutschland richten sich mit ihrem modernen Gewand vor allem an jene, die die Landeskirche immer weniger erreicht: junge Menschen. Die Bewegung vereint, dass sie wenig vereint: keine vorgeschriebenen Bräuche oder Rituale, keine Spur von der alten Liturgie. Was für die Zielgruppe funktioniert, wird gemacht.
„Von den Evangelikalen gibt es Missionierungsbestrebungen in Richtung Europa“, sagt der Religionswissenschaftler Martin Radermacher von der Ruhr-Universität Bochum und Mitherausgeber des Handbuchs Evangelikalismus. „Der Kontinent ist ihnen zu säkularisiert, die dortigen Gemeinden senden Menschen aus, um hier Kirchen zu gründen.“ Wer missionieren will, muss überzeugen. „Entscheidend ist gar nicht so sehr, was vermittelt wird, sondern wie“, sagt Radermacher. Denn: Es ist der selbe Gott, an den die Christen glauben, an das selbe Buch, ob landeskirchlich oder frei. Der Unterschied liegt also nicht im Inhalt, sondern in der Verpackung.
Die Bibel wird bei den Evangelikalen alltagsnah, fast schon profan. Es geht nicht um die großen Fragen, um Himmel und Hölle, Sünde und Vergebung, sondern darum, wie man es schafft, eine gesunde Beziehung zu führen, oder wie man weniger ausgelaugt durch den Tag kommt. Die Antwort: durch eine Beziehung zu Jesus. Dass die Sorgen der Mitglieder so irdisch sind wie sie selbst, zeigen die Themen der Gebete: Tinnitus-Heilung, gelingende Referate, eine Beförderung. In einem Google-Dokument kann jeder um göttlichen Beistand bitten.
Der Gottesdienst endet, wie er begonnen hat: mit Musik. Langsam laufen die Besucher die Stufen des Kinosaals nach oben. Tini wartet bereits an der Tür: „Und? Wie fandest du es?“ Sie strahlt. Wer Zögern oder Zweifel äußert, trifft auf Verständnis: „Wollen wir darüber reden?“ Sie fragt nach der Handynummer, ruft „direkt mal durch“. „Ein paar von uns gehen essen, willst du mitkommen?“
Was die Kirchen als Willkommenskultur beschreiben, ist ein ausgeklügelter Plan, die Neugierigen zu Neu-Christen zu machen: Bei Hillsong sitzen die, die noch nie im Gottesdienst waren, ganz vorne im Kino. Dort, wo auch das Kernteam der Kirche sitzt, dort wo die Menschen am lautesten jubeln, am sichersten in ihrem Glauben sind. Zu Beginn jeder Predigt stellt der Pastor sich vor, begrüßt explizit alle, die heute zum ersten Mal dabei sind, und auf jedem Platz findet sich eine kleine Karte: new to church. Dort kann man seine Bedürfnisse ankreuzen: mit einem Leiter sprechen, sich taufen lassen, mehr über die Kirche erfahren. Während es in den Landeskirchen vom Zufall abhängt, ob jemand fragt, wie man die Predigt fand oder auch nur wie es im Leben so geht, gibt es hier den durchorganisierten Einstieg. Aber die Landeskirchen sind auch nicht darauf angewiesen, dass jemand bei ihnen Mitglied wird.
2017 hatte der Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden in Deutschland 56 000 Mitglieder. In den vergangenen fünf Jahren ist die Zahl um 15 Prozent angestiegen. Im gleichen Zeitraum sind fast eine Million Menschen aus der evangelischen Kirche ausgetreten, ein Verlust von fünf Prozent. Die Landeskirchen blicken auf leere Bänke, während die freien Gemeinden mehr Gottesdienste am Sonntag abhalten oder nach noch größeren Locations suchen.
Sowohl Evangelikale als auch die Landeskirchen sind sich einig, dass die Kirchenaustreter nicht zwangsläufig zu den neuen Gemeinden überlaufen. Dennoch: Die einen wachsen, während die anderen weniger werden.
In der Tat will die evangelische Landeskirche nicht untätig zuschauen, wie sie immer mehr Mitglieder verliert. Social Media Profile werden eingerichtet, andere Musik im Gottesdienst diskutiert, in manchen Gemeinden gibt es jetzt Tauffeste für Alleinerziehende. Die Landeskirche hat dabei aber ein Problem: Die Hälfte der Mitglieder ist über fünfzig, und wünscht sich in der Regel keinen jungen, modernen Gottesdienst, keine Änderungen. Es droht die Gefahr, im Bemühen um neue Mitglieder alte zu vergraulen.
Reinhard Hempelmann ist Vorsitzender der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, eine landeskirchliche Institution, die Orientierung zu allerlei Themen geben will: Yoga, Esoterik, andere Religionen – und eben auch den neuen Freikirchen. Diese seien, so Hempelmann, auch „ein Protestphänomen gegen die fehlende Flexibilität“ der Landeskirchen. Man beobachte die neuen Gemeinden interessiert, bisher sei das Wachstum aber überschaubar. Beunruhigt zeige sich in der Landeskirche niemand.
Dennoch weiß auch Hempelmann, dass sich in der Landeskirche etwas verändern muss. „Die Kirche darf ihren heutigen Auftrag nicht mit der Festschreibung ihrer Gemeindestrukturen von gestern verwechseln“, sagt er.
Bei der evangelischen Landeskirche sei es allerdings so, dass die Gestaltung der Gottesdienste und des Gemeindelebens dem jeweiligen Gemeindevorsteher obliegt. Ob die Gemeinde einen Gottesdienst am Abend veranstaltet, um ein anderes Publikum anzuziehen, liege in deren Hand. Hempelmann wünscht sich aber einen Dialog zwischen alten und neuen Gemeinden – lernen könne man voneinander immer.
Das sieht auch Christian Stäblein so. Er ist Probst der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. „Es gibt eine große Wertschätzung für die Stärken der jeweils anderen“, sagt er. Ohnehin gebe es im Ökumenischen Rat einen regelmäßigen Austausch mit den Freikirchen. Beim Berliner Fest der Kirchen im September beispielsweise werde es beim abendlichen Konzert auch einen Hillsong-Beitrag geben.
Die Kooperation hat allerdings Grenzen: „Es gibt Formen der Frömmigkeit, die nicht mit unserem auf Freiheit ausgerichteten Begriff von Frömmigkeit zusammen gehen“, sagt Stäblein. Nämlich immer dann, wenn ein überhoher Druck von Bindungserwartung erzeugt wird. „Bei manchen Gemeinden im evangelikalen Spektrum – wobei ich Etikettierungen dieser Art selten hilfreich finde – wird bisweilen eng definiert, was christlich ist und was nicht.“ Das Wesen der Landeskirche aber sei ja gerade, dass die Mitglieder ihr Verhältnis von Nähe und Distanz frei bestimmen könnten. „Da gibt es Leute, die kommen einmal im Jahr zum Gottesdienst, dreimal oder auch 52 Mal.“
Saddleback Berlin hat vor allem aus den USA gelernt, wie man eine Kirche groß macht. Die Gemeinde ist, wenn man so will, eine Franchise-Kirche der kalifornischen Saddleback Church, einer weiteren Megakirche. Mehr als 20 000 Menschen kommen wöchentlich zu einem der 15 Gottesdienste in Kalifornien. Der Gründer Rick Warren, der den ersten Gottesdienst 1980 abhielt, sprach das Gebet bei Barack Obamas zweiter Amtseinführung, sein Buch „Leben mit Vision“ war zwischen 2003 und 2005 das meistverkaufte Buch der Welt. Neben Kalifornien gibt es vier internationale Ableger: In Buenos Aires, Hong Kong, Manila – und seit Oktober 2013 auch in Berlin.
Ihre Gottesdienste feiert die Freikirche nicht in einem Kirchenschiff, sondern in der Kalkscheune hinter dem Friedrichstadtpalast. Früher Maschinenfabrik, heute Eventlocation, sonntags Gotteshaus. Um Mitglieder zu gewinnen, schaltete die Gemeinde zunächst eine Anzeige im Berliner Fenster, den Fernsehern in der U-Bahn. „War aber sauteuer, das machen wir nie wieder“, sagt Dave Schnitter, der Pastor. Schwarze Brille, breit und groß gebaut, durch die dunklen Haare ziehen sich die ersten grauen Strähnen. Er hat den Charme eines kleinen Jungen, ständig unterbricht er sich, weil er über seine eigenen Witz lacht.
Inzwischen kommen Woche für Woche rund 300 Menschen in die Kalkscheune. Saddleback ist international wahnsinnig bekannt, die Mitglieder kommen aus den USA, aus Frankreich, aus Zimbabwe. Während Hillsong die jungen Wilden anspricht, richtet sich Saddleback eher an Familien: der Großteil der Mitglieder ist über 30, verheiratet, hat Kinder. In der freikirchlichen Szene heißt es, Saddleback richte sich an „High Professionals“ – Menschen, die auf der Karriereleiter sehr weit oben stehen.
Neben dem Gottesdienst treffen sich diese Mitglieder in Kleingruppen, das evangelikale Wort für Bibelkreis. 15 davon gibt es bei Saddleback. In Zehlendorf und Prenzlauer Berg, in Mitte und Friedenau, zwischen Dienstag und Samstag, irgendwo trifft sich immer eine Kleingruppe. Was sie dort machen, ist den Mitgliedern überlassen: in der Bibel lesen und darüber sprechen, gemeinsam Essen, die letzte Predigt diskutieren.
Diese Kleingruppen gibt es auch bei Hillsong. Allerdings geht das Angebot hier noch weiter: „Die Evangelikalen sind sehr dienstleistungsorientiert“, sagt der Religionswissenschaftler Martin Radermacher. Kirche ist nicht nur sonntags, Kirche ist ein Konzept, nach dem man sein ganzes Leben gestalten kann. Regelmäßig kommen die Mitglieder zum „Sports Life“ zusammen, im Park oder auf dem Basketballplatz treffen sie sich, joggen gemeinsam, spielen gegeneinander oder machen Fitness. Alle zwei Wochen am Donnerstag gibt es Dinner Partys, zuhause oder im Restaurant. Die Männer sind unter sich beim „Breakfast Club“, die Frauen treffen sich bei „Sisterhood“.
Die Pastoren der Gemeinden sagen alle das Gleiche: Berlin sei eine einsame Stadt und mit der Gemeinschaft in der Kirche wolle man etwas dagegen tun. Es ist kein Zufall, dass gerade in Berlin die Evangelikale Szene wächst: Eine immer internationaler werdende Stadt, mit Menschen, die Religion in ihren Heimatländern viel selbstverständlicher wahrnehmen. Aber vor allem eine große Stadt, in der täglich neue Leute ankommen – auf der Suche nach Anschluss.
Alles, was wie eine verschworene Gemeinschaft anmutet, steht schnell im Verdacht eine Sekte zu sein. Ein Vorwurf, den die Kirchen weit von sich weisen: Niemand sei verpflichtet, zu bleiben oder wiederzukommen. Die Leitstelle für Sektenfragen in Berlin sieht die neuen Gemeinden nicht als problematisch an: „Wir haben keinerlei interne Informationen oder Beratungsanfragen über kritische Sachverhalte erhalten. Und diese Anfragefrequenz ist eine relativ verlässliche Vorhersage für den Charakter einer Gemeinschaft.“ Wenn niemand Hilfe sucht, braucht auch niemand Hilfe?
Auch, wenn niemand bleiben muss, legen die Gemeinden großen Wert darauf, dass vieles innerhalb der christlichen Gemeinschaft passiert, so wie die zahlreichen Freizeitangebote. Wer die Kirche verlässt, verlässt vielleicht auch seine Freunde.
Wer dazugehören will, sollte weit mehr tun, als bloß zu den Gottesdiensten zu gehen. Eine wichtige Säule ist die Mitarbeit der Mitglieder: Sie sind Teil der „Welcome Teams“, begrüßen und betütteln die Neuen. Sie sind die Band, die Sonntag für Sonntag die christlichen Lieder singt. Sie verwalten die Gelder der Gemeinden, kochen den Kaffee, organisieren Events. Die Gemeinden sind alle auf feste Teams angewiesen, hier wirklich dabei zu sein, gleicht einem Vollzeitjob.
Wie die Landeskirchen leisten auch die Evangelikalen diakonische Arbeit. Allerdings in einem weit geringeren Ausmaß. Hillsong Berlin nimmt an Spendenläufen für sauberes Wasser in Entwicklungsländern teil, marschiert gegen Menschenhandel. Andere Gemeinden geben einen Teil der Mitgliederspenden an gemeinnützige Organisationen weiter, und sonntags, zwischen den Gottesdiensten, gehen Mitglieder ins Seniorenheim, um dort zu helfen. Sie nennen es „Berlin etwas zurückgeben“.
Modern, hilfsbereit, alltagsnah muten die Evangelikalen an, man vergisst fast, was sie alle zusammenhält: der christliche Glaube. Und der gerät, ebenso wie die Instanzen, die ihn vermitteln, immer wieder in die Kritik. Abtreibung: Sünde. Homosexualität: Sünde. Sex vor der Ehe: Sünde. Scheidung: Sünde. Positionen, die weder in das 21. Jahrhundert passen, noch zu einer Stadt wie Berlin, die davon lebt, dass jeder hier sein kann, wie er möchte. Haben sich die neuen Kirchen auch dahingehend verändert?
Die Position der Hillsong Church erfährt man nur aus Australien, die Berliner Zweigstelle äußert sich nicht: Homosexuelle dürfen in der Kirche keine Führungsrollen übernehmen. Der Gründer Brian Houston veröffentlichte vergangenes Jahr ein Statement, in dem er deutlich machte, dass Hillsong die Ehe klar als Verbindung von Mann und Frau sieht. Trotzdem sei natürlich jeder willkommen: Come as you are. Wer Jesus in sein Leben lasse, der werde schon erkennen, was er ändern müsse. Sexualität scheint sich hier je nach Bibeltreue wandeln zu können.
Saddleback-Gründer Rick Warren, der Mann, der das Gebet zu Barack Obamas Amtseinführung sprechen durfte, äußerte sich auf CNN folgendermaßen: „Nur weil ich ein Gefühl habe, macht es das noch nicht richtig. Nicht alles, was natürlich ist, ist gut für mich.“ Dave Schnitter ist da toleranter: „Ich möchte Homosexuellen drei Sachen sagen: Entschuldigung, dass wir Christen euch oft sehr lieblos und verurteilend begegnen. Danke, dass ihr uns darauf aufmerksam macht, dass das nicht okay ist. Willkommen.“ Und wer dann möchte, könne gemeinsam mit der Kirche auf eine Reise zu Gott gehen, sagt Dave. Dennoch gibt es bei Saddleback eine Besonderheit: nicht Pastor Dave predigt, sondern die Leiter aus den USA, die Inhalte werden per Video übertragen. Doch auch in den USA äußert sich zumindest niemand in der Predigt direkt zu Homosexualität.
Für Frauen oder Paare, die abgetrieben haben, bietet die amerikanische Mutterkirche Kurse an: Um von der Erfahrung zu genesen und Jesu Vergebung zu spüren. Hillsongs Hauptpastor in New York betont: „Abtreibung ist sündhaft.“ Die Berliner Gemeinden bleiben mit ihren Positionen im Konsens der Stadt, wirken liberaler als die Vorbilder, dennoch: Es bleiben ihre Vorbilder.
Formiert sich in Berlin also gerade eine wachsende Gruppe christlicher junger Menschen, die konservative Werte aus vergangenen Jahrhunderten hochhält? Nicht zwangsläufig, einige der neuen Gemeinden sind überraschend liberal.
Eine davon ist ICF Friedrichshain, entstanden als Ableger der ICF-Kirche aus Zürich, die 15 000 Menschen in ihre Gottesdienste zieht. Tino Dross läuft über die Boxhagener Straße, Sneaker und Sweatshirt, Jutebeutel über der Schulter und die Selbstgedrehte in der Hand. Vor kurzem ist er 30 geworden, seit sieben Jahren leitet er die Gemeinde in Friedrichshain, ohne Theologiestudium. Das holt er jetzt erst nach. „In der Uni sind viele überrascht darüber, dass ich eine Gemeinde leite, ohne abgeschlossene theologische Ausbildung“, sagt er. Ihn scheint das nicht zu stören. „Mein Prof hat mal gesagt: Ein Witz kommt nicht in einer Predigt vor. Kann er ja meinen, ich finde, das ist Blödsinn.“ Auf der Suche nach Themen für seine Predigt, liest er „Psychologie Heute“, ein riesengroßer Themenfundus sei diese Zeitschrift, und alltagsnah noch dazu.
„Nur weil etwas in der Bibel steht, glaube ich es nicht einfach.“ Fragt man ihn, was er zu Homosexualität zu sagen hat, lacht er laut: „Ich bin da ein bunter Vogel. Homosexualität ist natürlich keine Sünde.“ Das vertrete er privat und auch als Leiter der Gemeinde. In der Bibel stehe so viel absurdes Zeug, das könne man nicht unhinterfragt glauben. Die Frage sei für ihn immer, ob etwas dem menschlichen Leben schade. „Homosexualität schadet dem Leben nicht. Es fügt auch kein neues Leben hinzu, aber das ist für mich kein relevantes Argument.“ Thema abgehakt. Abtreibung befürwortet er persönlich zwar nicht, aber es gebe immer Gründe, sich gegen ein Kind zu entscheiden, die er verstehen könne. Außerdem: „Wenn man gerade keine Kinder will, soll man eben verhüten, mache ich ja auch.“
Die neuen Kirchen in Berlin sind so uneinheitlich wie die Stadt selbst: die einen konservativ, die anderen progressiv, die einen werden von charismatischen Engländern geleitet, die nächsten von jungen deutschen Studenten. Die einen locken hunderte, die anderen bleiben klein. Eines haben sie aber alle gemein: Sie sind sehr geschickt darin, neue Mitglieder anzuziehen.
„Die meisten kommen tatsächlich über Mund zu Mund-Propaganda, in Fußgängerzonen missionieren macht keiner“, sagt der Religionswissenschaftler Martin Radermacher. In jedem Gottesdienst heißt es, man solle seinen Freunden davon erzählen und sie mit in die Kirche bringen. „An Jesus zu glauben, bedeutet auch, darüber zu sprechen“, sagt Tino Dross.
Das tun sie alle. Auf Partys und in Cafés, auf der Arbeit und in der Uni, und vor allem in sozialen Netzwerken. Die Gemeinden haben Instagram-Accounts, zeigen Fotos der Gottesdienste, der Taufen, der Kleingruppen. Alles sieht so professionell und schön aus, wie man es sonst von Influencern kennt, die ihr Leben in Sozialen Netzwerken inszenieren. Bilder mit lachenden Menschen, mit sich umarmenden Menschen, mit feiernden Menschen, weiches Licht, coole Filter. Sie produzieren Imagevideos, stellen ihre jeweilige Kirche vor, die immer wie eine Guerilla-Bewegung anmutet: junge Menschen, die Berlin zuplakatieren, euphorisch über die Straßen rennen, Pyrotechnik, jemand schwingt eine große, schwarze Flagge, „Jesus“ steht darauf. So perfekt wie ein Musikvideo. Und immer die Einladung: Komm doch auch mal vorbei.
Warum wollen die Gemeinden nicht einfach klein und beschaulich bleiben? Anders als die Landeskirchen werden Freikirchen nicht durch Steuergelder finanziert, sondern über freiwillige Spenden ihrer Mitglieder. Jeder Neuzugang ist auch immer die Aussicht auf mehr Geld für die Gemeinde.
Hillsong hat das, wie so Vieles, professionalisiert. Während Mark Wilkinson seine Predigt hält, platzieren sich junge Männer im Saal. In ihren Händen halten sie kleine Plastikeimer, die Kollekte. „Damit unsere Kirche wachsen kann, braucht sie eure Unterstützung“, ruft Wilkinson, „Bargeld ist gut, aber auf euren Plätzen liegen auch Formulare, auf denen ihr eure Kontodaten eintragen könnt.“ Man hat die Wahl: Dauerauftrag oder einmalige Spende, im Idealfall gibt man seinen Zehnt. Als die Plastikeimer wieder bei den Messdienern ankommen, ragen etliche der Zettel heraus.
Der Zehnte, also zehn Prozent des Einkommens zu geben, ist ein biblisches Prinzip, viel gepredigt in den Freikirchen. „Der Zehnte als starre religiöse Regel macht es den Leuten aber auch sehr einfach“, findet Tino Dross. „Wenn die Kirche ihnen persönlich etwas gibt, dann fordere ich sie heraus, auch mehr zu geben als den Zehnten.“ Er habe aber keinen Einblick, wer wie viel spendet, aus Selbstschutz. „Die Gefahr besteht, dass mein Blick getrübt wäre.“ Sein Gehalt kommt aus den Spenden. ICF Friedrichshain ist, wie alle ICF-Gemeinden, sehr transparent mit den eigenen Finanzen: Durchschnittlich kommen monatlich 8 000 Euro an Spenden zusammen. Davon werden neben Tinos Gehalt die Miete bezahlt und kleine und große Anschaffungen in der Gemeinde. Zehn Prozent werden wiederum gespendet: an ein Café für Obdachlose.
Saddleback Berlin hat zu Beginn Geld von der Mutterkirche aus den USA bekommen, inzwischen finanziert sich die Gemeinde komplett über die Spenden ihrer hiesigen Mitglieder. „Darauf bin ich sehr stolz“, sagt Dave Schnitter. Eine Kirche wie ein Start-Up.
Im Gegensatz zu den Landeskirchen, lehnen die Freikirchen die Kindertaufe ab. „Babys werden bei uns gesegnet“, sagt Dave Schnitter von Saddleback. „Aber getauft werden nur Menschen, die sich aus freien Stücken dazu entschließen.“
Der Pfingstsonntag ist bei Saddleback „Baptism Sunday“. Die Sonne knallt in den Hinterhof der Kalkscheune, ein kniehoher Pool steht am Ende des Hofs. Davor sind Bierbänke aufgebaut, die ganze Gemeinde schaut zu. Frauen in Sommerkleidern, Männer in Anzügen, Kinder krabbeln über den Boden, klettern über die Bänke. Hinten gibt es Kaffee aus Pappbechern auf denen Botschaften stehen: Jesus liebt dich. Gott hat einen Plan für dich.
Dave Schnitter steht im Pool, trägt Badeshorts und ein graues Shirt auf dem steht: This is your new life. Hinter ihm wartet eine Handvoll junger Menschen, auch sie tragen die T-Shirts. Sie reden nicht miteinander, beäugen das Wasser, dann Dave.
Der erste, der Jesus seine Treue schwören will, ist ein junger Mann aus Frankreich, den Dave als Romain vorstellt. Ende 20, dunkle Haare, braun gebrannt, ein schöner Mann. Nach kurzer Schockstarre überwindet er die Kälte, stellt sich an den vorderen Rand des Pools, Dave steht daneben. Die Fotografin schießt schnell noch ein Foto von den letzten Sekunden seines alten Lebens.
„Glaubst du daran, dass Jesus für dich gestorben und wieder auferstanden ist?“, fragt Dave ihn auf Englisch.
„Yes, I do.“
„Wonderful! Und willst du Jesus für den Rest deines Lebens folgen?“
„Yes, I do.“
„Fantastic! Cross your arms“, bittet ihn Dave.
Dave hebt eine Hand in die Luft, die andere legt er Romain auf den Rücken: „Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Romain lässt sich mit verschränkten Armen nach hinten fallen, Dave drückt ihn kurz unter Wasser, als er auftaucht jubeln alle. Eine schnelle Umarmung, die einen nassen Abdruck auf dem T-Shirt des Pastors hinterlässt. Neben dem Pool wartet die Freundin des jungen Mannes mit einem Handtuch, das sie ihm überwirft, bevor sie ihn minutenlang küsst.
Danach steigt eine junge Frau in den Pool. Das Prozedere ist das gleiche: Foto. Glaubst du an Jesus und willst du ihm folgen? Vater, Sohn, Heiliger Geist. Ein- und wieder auftauchen. Jeder, der durchnässt aus dem Pool steigt, strahlt. Die Zuschauer jubeln. Das ist dein neues Leben.