„Die Schule war öfter dicht als wir“

Schule auf, Schule zu, Abistress, Lebenskrise: Wie wird man erwachsen, wenn einen die Pandemie ins Kinderzimmer zwingt? Wir haben 18 Schülerinnen und Schüler begleitet.

ZEIT ONLINE, Ressort X, 01. März 2021

Marlene: Ich hätte nie gedacht, dass ich mir am Abend vor meiner Bioklausur Gedanken darüber mache, welche Masken ich mitnehme, welche Decke ich einpacke und ob ich Handschuhe brauche. Ich hole jetzt meine Skisachen raus. Nicht um in den Skiurlaub zu fahren, sondern um meine Bioklausur zu schreiben.

Luna: Alle sagen: Der Stress ist normal. Abi ist immer stressig. Aber niemand versteht, dass es mehr ist als nur Abistress.

Manon: Hoffentlich sagen die Unis später nicht: Oh, Abi 2021, da war ja was.

Als die Pandemie ausbricht und die Schulen in Deutschland zum ersten Mal schließen, sind Marlene, Luna und Manon 16 Jahre alt. Sie gehen zu dem Zeitpunkt in die 11. Klasse des Alten Gymnasiums in Bremen. Damals glauben sie, dass bloß ihre Osterferien verlängert werden.

Janne: Im Vergleich zu jetzt war der erste Lockdown fast eine Entspannung. Wir konnten ja gar nicht absehen, was kommt.

Evangeline: Ich habe gelernt, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Aber irgendwie war es auch einsam.

Luna: Im ersten Lockdown hatten wir einfach nur Aufgaben. Onlineunterricht gab es da nicht.

Seitdem ist fast ein Jahr vergangen. In wenigen Monaten schreibt die heute 12. Klasse des Gymnasiums, die aus rund hundert Schülerinnen und Schülern besteht, ihre Abiturprüfungen. Seit einem Jahr diskutiert das Land, wie umzugehen sei mit den Schulen: auf oder zu? Infektionsschutz oder Recht auf Bildung? Was ist mit der Schulpflicht? Sonderregeln für die Abschlussklassen? Erst waren die Schulen zu lange auf, jetzt sind sie zu lange zu.

Bremen ist das Bundesland mit den wenigsten Schülern: 67.233 zählte das Land im vergangenen Schuljahr. Gleichzeitig ist es das Bundesland, das am schlechtesten im Pisa-Vergleich abschneidet. Für die Schülerinnen und Schüler entscheidet hier Claudia Bogedan, Bremer Bildungssenatorin seit 2015.

Manon: Wenn die Behörde wenigstens mit uns sprechen würde. Oder mit unseren Lehrern!

Melissa: Ich habe Angst, dass unser Abi nicht mit den anderen Jahrgängen vergleichbar sein wird. Als Bremer ist unser Abi „ja eh nichts wert“ – und jetzt noch der Corona-Jahrgang zu sein, der wahrscheinlich weniger leisten muss in den Prüfungen: Da haben wir, glaube ich, die Arschkarte.

Luna: Im November waren meine Lehrer alle auf einmal in Quarantäne.

Die Schülerinnen und Schüler sind mittendrin im Erwachsenwerden. Gerade begann für sie die Zeit, die sich anfühlt wie ein immer schneller werdendes Karussell. Wählen dürfen, nicht mehr für alles um Erlaubnis fragen müssen, auf Partys gehen, Pläne für ein ganzes Leben machen. Teenagerjahre voller erster und letzter Male. Bald werden sich manche voneinander verabschieden, bevor sie in andere Städte ziehen und neue Freunde finden. Es ist die Zeit der einzigartigen Momente: der letzte Schultag, die Zeugnisvergabe, der Abiball.

Wie wird man erwachsen, wenn die Pandemie einen ins Kinderzimmer zwingt? ZEIT ONLINE begleitet 18 Schülerinnen und Schüler des Alten Gymnasiums durch die letzten Monate ihres Abiturs. Seit Januar erzählen sie in Zoom-Calls, Telefonaten und vielen, vielen Sprachnachrichten von sich und davon, was es heißt, während Corona jung zu sein.

Mirija: Das ist doch eigentlich die Zeit, in der wir herausfinden sollen, wer wir sind und was wir machen wollen. Aber das können wir absolut nicht. Wir hatten keine Praktika, wir können nicht auf Partys gehen und wir können uns nicht selber kennenlernen.

Benthe: Sich immer nur auf WhatsApp zu schreiben, statt sich zu sehen, ist auch nicht normal.

Manon: Ich freue mich so darauf, mit der Schule fertig zu sein. Aber ich habe auch so Angst davor. Das richtige Leben, das klingt unsagbar gruselig.

Bastian: Ich mache keine Pläne, was nach dem Abi kommt. Bei dem Jahrgang davor hat das meiste auch nicht geklappt.

Anfang Januar sind in Deutschland noch Weihnachtsferien. In Bremen wurde der 200. Todesfall gemeldet, die Inzidenz ist die geringste der Republik. Am 5. Januar beschließen die Ministerpräsidenten, den Lockdown bis zum 31. Januar zu verlängern. Eigentlich hätte die Abschlussklasse am Montag wieder zur Schule gehen sollen.

Marlene: Die Beschlüsse von gestern haben alles über den Haufen geworfen. Wir werden am Sonntag alle auf Corona getestet, eigentlich, um dann am Montag in die Schule gehen zu können. Jetzt haben wir Onlineunterricht und werden trotzdem getestet.

Anneke: Ich fühle mich im Dauerstress. Corona ist allgegenwärtig, auch in meiner Familie. Mein Opa ist seit einem Monat daran erkrankt. Bei jedem Telefonklingeln habe ich Angst, dass es schlechte Nachrichten aus dem Krankenhaus gibt. Egal, wer anruft, egal, ich fürchte mich immer.

Clara: Es fühlt sich für mich blöd an, zu wissen, die letzte Zeit mit meinen Schulfreunden nicht so zu verbringen, wie ich es gerne hätte. Ich würde gerne jedes Wochenende rausgehen, mich draußen hinsetzen und einfach Spaß haben.

Marlene: Nach dem Corona-Test stand ich noch lange mit Freundinnen draußen. Wir wollen jetzt Zoom-Konferenzen machen, damit wir uns wenigstens da sehen.

Bremen war verhältnismäßig gut auf die Pandemie vorbereitet: Vor fünf Jahren bekamen alle Schulen einen Zugang zur Plattform itslearning, über die Unterricht digitalisiert werden kann. Im Herbst schaffte das Land 100.000 iPads an, für alle Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler. Am Montag, dem 11. Januar, hat die Abschlussklasse ihren ersten Schultag des Jahres. Online.

Mona: Ich habe heute Morgen die erste Videokonferenz des Jahres verschlafen. Ich wusste gar nicht, dass wir eine haben, weil ich nicht auf mein iPad geguckt habe. Wow, beginnt mein Jahr toll.

Thea: Heute steht eigentlich Onlineunterricht an. Aber itslearning funktioniert gerade nicht, sodass der Unterricht wahrscheinlich ausfällt.

Luna: Ich konnte itslearning nicht mal öffnen.

Melissa: Bei mir hat die Technik nur einmal gesponnen. Vor allem machen mehr Lehrer was. Es fühlt sich halt wirklich mehr nach Distanzunterricht an als vor den Ferien oder im April noch, wo alle Lehrer irgendwie meinten: Ja, warten wir die Situation mal ab. Ich habe das Gefühl, langsam gibt es einen Plan, wie man mit der Situation umgeht. Das macht mir irgendwie Hoffnung, dass das Abitur vernünftig verlaufen kann.

Marlene: Es war total ungewohnt, meinen Klassenlehrer ohne Maske zu sehen. Das hab ich seit einem Dreivierteljahr nicht. Ich weiß nicht, wie man mit Onlineunterricht aufs Abitur vorbereitet werden soll.

Manon: Mein Freund hatte in den Ferien Corona. Es ging ihm zum Glück okay, seiner Mutter aber nur so mittel. An Weihnachten war er noch bei uns, ich habe mir richtig Sorgen gemacht, ob meine Familie krank wird. Ging aber alles gut.

Beim Onlineunterricht bleibt es nicht. Anders als andere Bundesländer öffnet Bremen seine Schulen Mitte Januar wieder. Der Abiturjahrgang des Alten Gymnasiums wird in zwei Gruppen unterteilt: Die einen haben montags, mittwochs und freitags Unterricht, die anderen an den anderen zwei Tagen. In der Woche darauf wird gewechselt. Auf Kritik entgegnet die Bildungssenatorin Claudia Bogedan beim Regionalmagazin „buten un binnen“: „Ich übernehme die Verantwortung gerne.“

Thea: Wieso haben wir wieder mit so vielen Menschen Kontakt, aber für den Rest gelten strenge Regeln? Ich finde, man setzt unsere Gesundheit ziemlich aufs Spiel und nicht nur unsere, auch die unserer Familien.

Am 18. Januar geht die Hälfte des Jahrgangs wieder in die Schule. Es wird der normale Stundenplan gemacht. Ab jetzt gilt: Wer montags seinen Leistungskurs hat, aber in der Dienstagsgruppe ist, verpasst die Stunde am Montag. In Deutschland gibt es 9.422 Neuinfektionen, die Sieben-Tage-Inzidenz in Bremen liegt bei 83,2.

Janne: Im Sportunterricht ist die Maske freiwillig. Wir haben uns heute dafür entschieden, dass wir alle Masken tragen wollen.

Luna: Wir müssen die ganze Zeit lüften. Ich sitze in Mathe mit dem Rücken zum Fenster und wenn es regnet, werde ich einfach nass.

Marlene: Wir haben schon Lehrer, die keine Maske tragen wollen. Eine Lehrerin hat uns über die Ferien Aufgaben aufgegeben, wo wir uns mit anderen treffen sollten. Das wollen wir ansprechen.

Evangeline: Ich fühle mich coronamäßig sehr sicher. Aber es ist ungewohnt, wieder hinzugehen.

Anneke: Die unteren Klassen sollen eigentlich nur zur Notbetreuung kommen, aber es ist total voll. Warum sind die Neuntklässler da? So klein sind die auch nicht.

Mirija: In den Pausen ist es jetzt so langweilig.

Manon: In der Cafeteria saßen alle ohne Maske.

Bastian: Ich habe aufgehört, mir um irgendetwas Gedanken zu machen. Kann man eh nicht ändern.

Lara: Es ist so schön, Leute zu sehen. Sonst mache ich echt wenig: Netflix, bisschen Schule, kaum Freunde.

Stina: Corona ist total oft Thema. Manche Lehrer regen sich auf, dass die Maßnahmen nicht umzusetzen sind. Manche halten sich einfach gar nicht dran.

Der Abijahrgang ist ein Vorzeigejahrgang: Es gab keinen Corona-Fall, kein einziges Mal mussten sie als Jahrgang oder Kurs in Quarantäne. Damit das so gut funktioniert, müssen sich die Schüler auch in der Freizeit an die Regeln halten. Auch sie dürfen außerhalb der Schule nur eine weitere Person treffen.

Dabei erlebt man die Jahre des Erwachsenwerdens am besten gemeinsam. Mit Nähe zu Freunden und Distanz zu den Eltern. Die Abimonate werden die letzten gemeinsamen für die Schülerinnen und Schüler sein. Nach dem Abi wollen sie als Au-pair nach London oder Skandinavien, sie wollen reisen, ein Freiwilliges Soziales Jahr machen oder studieren. Sie wollen weg aus Bremen.

Evangeline: Ich bin vor allem mit meinen Eltern und meiner Schwester zusammen. Mir fehlen die Gesichter von Menschen.

Manon: Unsere Stufe ist safe . Ich halte sogar zu guten Freunden Abstand. Die Stufe unter uns, die kuschelt. Aber, shame on me , vor dem Lockdown war ich auf einer kleinen Party am Werdersee.

Melissa: Ich habe, seit Corona losging, meine Verwandten in Mecklenburg-Vorpommern gar nicht mehr gesehen. Mein Freund ist meine Kontaktperson. Mit meinen Freundinnen mache ich höchstens Onlinespieleabende.

Leonard: Ich spiele in einer von Werder Bremen gegründeten Mannschaft für Jugendliche mit und ohne Behinderungen. Das Training fällt mit Corona komplett weg. Keine Fitness im Team, höchstens zu Hause und nur individuell. Dafür verbringe ich jetzt viel Zeit mit meinen Schwestern.

Janne: Mir fehlen die Kontakte. Ich bin Schülersprecherin, ich jobbe, mache Ballett und tanze Standard. Das Tanzen fällt jetzt weg. Immerhin habe ich manchmal einen Familienwechsel, wenn ich bei meinem Freund bin.

Marlene: Ich will mich an die Regeln halten. Wenn ich sehe, dass andere bei Insta Bilder mit fünf Leuten posten, werde ich sauer. Ich hätte so ein schlechtes Gewissen. Deswegen sehe ich fast nur noch meinen Freund.

Bastian: Als es kalt wurde, habe ich versucht so lange wie möglich noch mit Freunden draußen zu sitzen. Irgendwann ging es nicht mehr. Jetzt spaziere ich. Richtig, richtig viel.

Carima: Mein Freund wohnt in Köln, wir können uns nicht mal eben draußen treffen. Wir müssen viel mehr planen und auch mit unseren Familien absprechen, ob das für die okay ist.

Bastian, Lara und Stina sind alle drei im Schulorchester. Im Sommer waren sie oft zusammen unterwegs. Jetzt sehen sie sich nur noch in der Schule und beim Zoom-Call zu dritt, um für diesen Text von ihrer Woche zu erzählen.

Bastian: Der Sommer ging echt. Es waren viele Partys, alle draußen. Manche sind auch ein bisschen eskaliert, von der Menge an Leuten. Wir haben uns immer gesagt: Ist ja draußen. Das war die einzige Zeit, wo was stattfinden konnte. Das ist immerhin etwas.

Lara: Ich finde nicht, dass das „immerhin etwas“ ist. Am letzten Schultag vor den Ferien waren wir doch alle am Werdersee und da haben sich fünf einzelne Partys gebildet. Die haben sich irgendwann durchmischt und als wir gefahren sind, kam schon die Polizei. Klar, das geht auch nicht wegen Corona. Aber hätte es kein Corona gegeben, wäre das ein richtig krasser Abend gewesen. Da fehlt einfach was Großes.

Stina: Ich werde bald 18. Wahrscheinlich mache ich da gar nichts. Zu Hause sitzen ist ja sinnvoll.

Bastian: Hoffentlich haben wir wenigstens einen Abiball. Ich verwalte die Finanzen und das war so ein Aufwand. Die ganze Planung generell.

Lara: Unsere Stufenfahrt haben wir gar nicht erst angefangen zu planen, als Corona kam. Aber der Abiball wäre echt schön. Wir haben uns ja damit abgefunden, dass wir keine Mottowoche haben werden oder eine Feier am letzten Tag. Aber im Sommer sind die Zahlen vielleicht niedriger.

Routiniert zählen die Schüler Inzidenzen auf, sprechen über die Notwendigkeit von Impfungen und darüber, dass sie zu Hause bleiben, um ihre Eltern vor dem Virus zu schützen. Jede Beschwerde wird damit abgetan, dass es andere noch schwerer hätten, jeden noch so kleinen Regelbruch verurteilen sie sofort selbst. Jugendlicher Leichtsinn? Nicht in diesem Jahr.

Mona: Vor ein paar Wochen war eine Freundin von mir positiv. Ich hatte sie vorher umarmt, das war so unverantwortlich. Bis zum negativen Testergebnis war ich nur in meinem Zimmer, meine Eltern haben mir Essen gebracht. Mein Papa ist über 60, ich habe Asthma. Da hatte ich echt Angst.

Evangeline: Im Oktober war mein 18. Geburtstag. Der sollte eine Riesenfeier sein, ich hatte schon alles reserviert und alle eingeladen. Das habe ich dann abgesagt.

Eine andere Schülerin erzählt, dass sie zu ihrem Geburtstag zwei Freunde eingeladen hat, obwohl nur einer erlaubt gewesen wäre. Das ist ihr so unangenehm, dass sie nicht möchte, dass man ihren Namen kennt.

Stina: Mich regt es so auf, dass manche Lehrer einfach immer noch nicht den Ernst der Lage verstanden haben und sich nicht an die Maßnahmen halten.

Mirija: Unsere Probleme sind nichts im Vergleich zu den Schicksalen, die andere Menschen erlitten haben. Ja, ich hätte richtig gerne eine Mottowoche, einen Abiball, Zeit mit meinen Freunden, aber es gibt wesentlich dramatischere Sachen auf der Welt, als keinen Abiball zu haben.

Marlene und Janne leiten zusammen das Abikomitee. Sie planen die Mottowoche – die letzte Schulwoche, in der sich alle verkleiden – den Abiball, das Abibuch. Am 11. Februar 2020 veröffentlichten sie auf ihrem Abi-Instagramaccount die Themen der Mottowoche: Kindheitshelden, Filme und Serien, Zeitreise, Stereotypen, Promis und politische Figuren. Einen Monat später schloss die Schule für den ersten Lockdown. Trotzdem planten sie weiter.

Bis jetzt ist unklar, was stattfinden kann.

Marlene: Bei der Mottowoche wären wir eh viel draußen. Vielleicht geht das ja.

Melissa: Seit ich in der 5. Klasse war, freue ich mich auf diese Woche. Das ist so ein Riesending als Schüler.

Luna: Ich wollte eigentlich nach der 11. aufhören und ein FSJ machen. Meine Freundinnen haben mich überredet, auch damit wir zusammen Abiball feiern können. Und jetzt? Ich glaube nicht daran, dass das stattfindet.

Janne: Vielleicht geht der Abiball ja, aber mit strengen Maßnahmen. Ohne Alkohol oder so.

Bastian: Viele sehe ich nach dem Abi vielleicht nie mehr. Der Abiball ist unser Abschluss. Wenn es den nicht gäbe, wäre ich sehr traurig.

Der Abiball soll am 25. Juni stattfinden. Sie haben drei Szenarien geplant: mit Eltern, Geschwistern und allen anderen. Nur mit Lehrern und Schülern. Oder nur die Schüler. Ob sie feiern dürfen: Wer weiß? Immerhin haben sie schon ein Abimotto: Abi 2021 – Die Schule war öfter dicht als wir.

Clara: Man ist grad in dem Alter, wo man die erste richtige Phase hat, zu wissen, wer man ist, oder ’ne Lebenskrise hat und hinterfragt, wer man ist. Ich glaube, vielen geht es psychisch sehr schlecht. Das macht mir Sorgen.

Zoe: Meine Eltern sind total unterstützend. Meine Mutter ist Psychotherapeutin, sie sieht die Probleme durch Corona jeden Tag in der Praxis. Aber manchmal will ich keine Lösung. Manchmal will ich einfach hören, dass es gerade scheiße ist.

Leonard: Ich mache mir Sorgen, dass mein Opa vereinsamt. Er ist mein Lieblingsopa. Wir haben an den Wochenenden zusammen Ausflüge gemacht oder Frankfurter Kranz gebacken. Jetzt sehe ich ihn nur noch sehr selten.

Thea: Meine Eltern sagen immer, ich tue ihnen leid, weil bei mir so viel an Jugend ausfällt.

Anneke: Mein Opa ist im Januar an Corona gestorben. Ich realisiere das noch gar nicht. Ich rede viel mit meinen Freundinnen darüber, aber eben nur telefonisch oder per WhatsApp. Nächste Woche will ich eine von ihnen mal treffen.

Luna: Ich schlafe seit zwei Wochen überhaupt nicht mehr gut. Ich habe Albträume. Ich wache ständig auf. Ich bin total unruhig. Es macht sich total bemerkbar, wie nervenaufreibend das alles ist. Ich fühle mich so wenig verstanden. Klar, Abi ist nun mal stressig, aber bei uns ist das mehr. Die verstehen gar nicht, was das mit einem macht, wenn man die ganze Zeit eingesperrt ist.

Fast alle 18 berichten davon, dass sie viel weinen und schlecht schlafen. Eine hat in der Pandemie aufgehört zu essen. Seit dem Sommer geht sie einmal die Woche zur Therapie. Sie will nicht, dass ihre Mitschüler wissen, dass sie das ist: „Ich will ich bleiben. Nicht die Kranke.“

Benthe: Ich mache mir Sorgen, dass mir alles einfach zu viel wird.

Mona: Ich lerne für alles super viel. Das Abi setzt mich echt unter Druck. Meine Eltern erwarten auch, dass ich das gut mache.

Am 21. Januar gibt die Bildungssenatorin in Bremen neue Beschlüsse bekannt. Die Abiturprüfungen werden verschoben. Statt bis zu den Osterferien sollen die Schülerinnen bis zum 30. April zum Unterricht gehen. Und statt im April sollen sie ihre Prüfungen erst im Juni absolvieren. Die Abiturzeugnisse sollen sie am 21. Juli bekommen.

Melissa: Ich finde es ehrlich gesagt ziemlich scheiße. Ja, das wäre stressig geworden mit Klausuren für die nächsten fünf Wochen oder so, auf der anderen Seite wäre ich dann auch nur noch zwei Monate lang benotet worden, hätte kurz danach mein Abi und wäre durch mit allem. Ich hab jetzt schon angefangen, für viele Sachen zu lernen, und wenn ich mir überlege, ich soll das jetzt noch ein halbes Jahr länger im Kopf behalten, weil ich erst im Juni Abi schreibe, statt im April …

Mirija: Ich finde das richtig, richtig doof. Ich wollte im Juli schon in London sein.

Anneke: Ich fühle mich so verarscht. Ich weiß auch gar nicht, was das bringen soll. Ich glaube, wir werden uns alle einfach totschuften, weil die letzten Monate so eine Intensivlernphase sind, die wird einfach verlängert. Ich glaube nicht, dass unser Abitur dadurch wirklich besser ausfallen wird. Wir gehen da einfach alle total überarbeitet rein.

Janne, die Schülersprecherin des Alten Gymnasiums, vernetzt sich noch am selben Abend mit anderen Schülervertretungen. Sie schicken eine Umfrage in den Jahrgängen herum.

Carima: Niemand wird gefragt. Niemand guckt sich an, wie es läuft. Sondern denkt sich aus, wie es wohl laufen könnte.

Zoe: Im ersten Moment sind mir die Tränen in die Augen geschossen. Das war plötzlich so viel mehr Druck. Die ganze Situation ist jetzt schon superstressig mit all den Vorschriften und dem Druck, der über der Schule aufgebaut wird, und den Lehrern, die einem sagen: Ja, ihr müsst jetzt schon anfangen superviel zu lernen, ihr müsst jetzt schon superviel wiederholen, sonst schafft ihr das nicht. Als ich dann erfahren hab, dass es so weitergehen wird und nicht im Mai irgendwann aufhört, sondern dass das noch länger dauert. Da dachte ich: Ich schaffe das einfach nicht.

Marlene: Nicht mal unser Oberstufenkoordinator wusste von dem Plan. Und der hat ja wirklich alles mit dem Abitur zu tun. Der hat es aus dem Radio erfahren.

Mona: Ich finde das gut, dann habe ich mehr Zeit zum Lernen. Aber Anfang Juni habe ich mich auch für die Aufnahmeprüfung bei der Kripo angemeldet. Ich weiß nicht, ob ich die einfach so verschieben kann.

Leonard: Mich hat die Nachricht von der Verschiebung regelrecht umgehauen. Ich wollte in der Zeit schon anfangen zu arbeiten.

Seit sich der Jahrgang nicht mehr sieht, sind die Schüler auf Social Media und Messengerdienste angewiesen. Sie feiern Zoom-Partys, lernen online und regen sich online gemeinsam auf. Leonard ist in den Klassenchats nicht dabei. Er schreibt vor allem Mails.

Leonard: Bei uns in der Familie hat nicht jeder ein mobiles Endgerät. So kam uns die Beschaffung der iPads in Bremen sehr zugute. Besonders für den Onlineunterricht ist es vorteilhaft, solch ein mobiles Endgerät zu bekommen. Aber andere Problem bleiben bestehen. Ich bin nicht in den WhatsApp-Gruppen und weiß zum Beispiel nicht, wo wir unseren Abiball feiern.

Die Schülervertretungen in Bremen verfassen einen offenen Brief. Janne arbeitet daran mit. In den kommenden Tagen berichten die „BILD“-Zeitung, der „Weser-Kurier“, „taz“ und „buten un binnen“, Marlene geht mit einem Mitschüler zum Radio. Die Schülervertretungen schreiben im offenen Brief: „Wir bitten Sie nicht nur für uns, sondern vor allem mit uns über unseren Abschluss zu entscheiden.“

Thea: Carima und ich wollten ja mit unseren Freunden zusammen wegfahren. Das fällt jetzt wahrscheinlich ins Wasser, weil Carimas Freund schon fest Urlaub genommen hat. Da hatten wir uns so drauf gefreut.

Evangeline: Ich hab nicht das Gefühl, irgendwas verpasst zu haben. Im Gegenteil, ich hab das Gefühl, dass ich die ganze Zeit am Arbeiten war und am Lernen. Ich glaube, es ist nicht richtig, alles auf Corona zu schieben. Klar ist es anstrengender gewesen, aber ich hab nicht das Gefühl, dass mein Lernen darunter gelitten hat. Aber das gilt nur für mich persönlich.

Benthe: Ich glaube nicht, dass das alles etwas bringt. Es hört ja sonst auch niemand auf uns.

Clara: Ich wollte im Sommer reisen. Dafür braucht man Geld. Wann soll ich das jetzt verdienen?

Carima: Ich will endlich raus aus all diesen Regeln und Systemen.

Zoe: Ich will einfach weinen. Ich will nicht nur gute Noten, ich will auch, dass es mir gut geht.

Am Dienstag, dem 26. Januar, fünf Tage nachdem beschlossen wurde, dass das Abitur verschoben wird, gibt es einen weiteren Beschluss. Dieses Mal entscheidet nicht die Bildungsbehörde, sondern das Alte Gymnasium selbst: Die Schüler haben ab nächster Woche wieder Onlineunterricht.

Marlene und Zoe melden sich kurz vor Mitternacht über WhatsApp.

Zoe: Letzte Woche wurde beschlossen, dass wir fast einen Monat länger Unterricht haben, und jetzt werden wir wieder nach Hause geschickt. Das heißt im Grunde: Wir sitzen zu Hause und bringen uns die Sachen noch länger selbst bei.

Marlene: Ich verstehe nicht, wie die sagen können, dass wir zwar Onlineunterricht machen, aber zum Sportunterricht kommen sollen. Klar, laut deren Hygienekonzepten passt das. Aber man kann Basketball nicht mit Abstand trainieren.

Zoe: Wie sollen wir das alles schaffen? Ich bin so unruhig. Ich weiß gar nicht, wie ich jetzt schlafen soll.

Marlene: Es geht nicht in meinen Kopf rein, was die Entscheidung bringen soll. Ich bin so sauer, aber auch traurig. Ich habe meine Freunde insgesamt nur fünf Tage gesehen. Das war das, was mir geholfen hat. Es ging mir besser. Jetzt werde ich wieder niemanden sehen. Warum kommen solche Nachrichten immer kurz vor zwölf? Jetzt liege ich im Bett und kann nicht schlafen.

Am nächsten Morgen schreiben die drei Englisch-LKs ihre Vor-Abi-Klausur. Wie in den richtigen Abiturprüfungen gibt es Themen, aus denen sie wählen dürfen. Die Prüfung geht, wie dann auch im Abitur, über sechs Stunden: von 8 bis 14.20 Uhr. Es ist der Testlauf für die Abiturienten, den es jedes Jahr gibt. Dieses Mal ist es gewissermaßen auch der Testlauf für die Schulen, ob das Abitur unter Corona-Bedingungen stattfinden kann. Die beiden Halbgruppen werden wieder zu einem Kurs, der gemeinsam die Prüfung schreibt. Aber nicht unter gleichen Bedingungen.

Luna: Ich hatte in den letzten Wochen nur drei Stunden Englisch vor der Klausur. Die andere Halbgruppe hatte sechs.

Es gibt zwei kurze Pausen, in denen die Schüler nach draußen dürfen, um die FFP2-Masken abzusetzen, die sie tragen müssen. Während der Klausur sieht der Lüftungsplan vor, dass die Fenster alle 20 Minuten für fünf Minuten geöffnet werden. Die Höchsttemperatur in Bremen beträgt an diesem Tag fünf Grad.

Luna: Ich habe die ganze Zeit gezittert, weil es mega kalt war. Ich konnte kaum schreiben, so kalt war die Hand. Manchmal, wenn keiner geguckt hat, habe ich die Maske kurz unter die Nase gezogen und Luft geholt. Ich versteh nicht, warum ich morgen und übermorgen noch in die Schule soll, wenn ab nächster Woche wieder Onlineunterricht ist. Die Mutation ist in Bremen. Corona ist überall. Wieso gehen die das Risiko ein?

Ab dem 1. Februar bittet die Schulleitung darum, dass alle zu Hause bleiben. Wer zu Hause nicht gut lernen kann oder kein eigenes Zimmer hat, darf in die Schule kommen und von dort am Unterricht teilnehmen. Nur zum Sportunterricht und den Klausuren müssen alle kommen.

Leonard: Im Onlineunterricht ist es nicht besonders spannend. Man kann es sich zu Hause viel zu bequem machen, um an dem Onlineunterricht teilzunehmen oder überhaupt Unterricht zu machen. Deswegen finde ich es angenehm, dass es eine „Präsenzbetreuung“ gibt, damit ich noch zur Schule gehen kann.

Mirija: Ich bleibe zu Hause. Mein Hauptgrund war die Sicherheit und dass es zu Hause wärmer ist. Du kannst im Schlafanzug im Bett liegen und die Zoom-Konferenz machen. Du kannst dir die Arbeit einteilen. Du musst keine Maske tragen. Man muss nicht so oft lüften. Es ist nicht so kalt.

Zoe: Eigentlich habe ich mich für Präsenz eingetragen. Aber die Lehrer sind alle nicht da, also bleibe ich auch zu Hause. Heute bin ich mal in der Schule. Gerade sitze ich alleine in einem Raum mit Maske und muss lüften.

Am 4. Februar meldet sich die Bildungssenatorin bei den Bremer Schülervertretungen. Es gibt einen Videocall mit allen Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern des offenen Briefs. Auch Vertretungen aus Bremerhaven kommen dazu. Janne ist bei dem Gespräch dabei.

Janne: Die Senatorin ist kurz auf unseren Brief eingegangen und wollte uns aber vor allem die neuen Regelungen vorstellen. Wir bekommen eine halbe Stunde mehr für die Prüfungen und dürfen die Operatorenlisten, die die Aufgaben erläutern, benutzen. Und sie hat uns gesagt, dass es neue Abiturtermine gibt. Wir dürfen wählen, ob wir unser Abi im Mai oder im Juni schreiben.

Marlene: Es wurde endlich auf uns gehört. Ich bin so megamegafroh. Das zeigt, dass wir was verändern können.

Janne: Ich habe danach eine Umfrage im Jahrgang gestartet, ob alle damit zufrieden sind. 85 Prozent sind zufrieden. Ich auch. Wir sind aber auch ein Jahrgang, bei dem vieles gut geklappt hat. Keine Quarantäne, wenig Unterrichtsausfall.

Bis zum 26. März sollen sich alle entscheiden, wann sie ihre Abiturprüfungen absolvieren.

Bastian: Ich nehme wahrscheinlich den ersten Abitermin. Keiner sagt, dass das irgendwas bringen wird. Sie wollen es ja auch so machen, dass die, die später schreiben, keinen Vorteil gegenüber denen haben, die früher schreiben. Warum gibt es also diese Regelung? Ich weiß es nicht.

Luna: Ich will es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Ich nehme den ersten Termin. Meine engsten Freunde haben sich auch alle dafür entschieden, was total cool ist, weil wir dann alle durch sind und was miteinander unternehmen können.

Mitte Februar schreibt der Bio-LK seine Vor-Abi-Klausur. Nur dafür gehen die Schülerinnen und Schüler gerade noch in die Schule. In Bremen liegt noch etwas Schnee. Auch dieses Mal wird alle 20 Minuten gelüftet. Alle müssen FFP2-Masken tragen. Es gibt keine Pausen.

Marlene: Während der Klausur hat eine Freundin, die am Fenster saß, gefragt: „Darf ich das Fenster schließen? Es regnet auf meine Klausur.“ Das ist einfach sinnbildlich für alles.

Sechs Wochen im Leben des Corona-Jahrgangs. In dieser Zeit gab es drei Lockdown-Verlängerungen, bis zum 31. Januar, bis zum 14. Februar und bis zum 7. März. Erst hatten sie Onlineunterricht, dann gingen sie in Halbgruppen in die Schule, dann hatten sie wieder Onlineunterricht. Und jetzt werden die Schulen – trotz steigender Corona-Zahlen – wieder geöffnet: Bremen hat entschieden, dass ab dem 1. März alle Schülerinnen und Schüler wieder zur Schule gehen. Die Grundschülerinnen haben alle gemeinsam Schule, die Abiturienten haben wieder Halbgruppenunterricht. Heute, am Montag, geht es los.