Der König ist tot

In der alten Welt der englischen Traveller wird der Tod zum Spektakel. Long Live The Queen? Wir haben einen König beerdigt

JWD., 12.04.2019

Der König dieser Geschichte heißt Francie Doherty, sein Gefolge ist die Familie, sein Schloss die Siedlung aus fahrenden Häusern, kleinen Hütten und Hundezwingern in der Gypsy Lane, und hier werden sie ihn begraben.

Als sein Neffe Paddy eine Frau gefunden hatte, die er heiraten wollte, kam der König zu ihm: Sie ist nicht gut genug, sagte er. Woher willst du das wissen, fragte Paddy ihn. Nun, soll der König gesagt haben, ich hatte sie letzte Nacht.

Oh, ich habe ihn so geliebt, sagt Paddy am Abend vor der Beerdigung. Der Mensch verklärt, was nicht mehr ist.

Francie Doherty kommt 1955 in England auf die Welt. Seine Eltern sterben früh, gemeinsam mit seinen Geschwistern schlägt er sich durch. Mit zwölf Jahren lernt er Rhona kennen, sie heiraten, als sie 16 sind, bekommen zehn Kinder und 42 Enkelkinder. Sie nennen ihn den Punk und machen den Punk zu ihrem König. Hier gibt es kein Geburtsrecht, keine festgeschriebene Reihenfolge. König wird, wer König ist. Mit 63 stirbt König Francie an Krebs.

Die Dohertys gehören zu den Travellern Großbritanniens, das fahrende Volk der Insel. Sie selbst nennen sich Gypsies, wenn andere das tun, ist es eine Beleidigung. Die Briten rufen sie Gypsies.

Die Welt der Traveller ist eine alte, eine geschlossene. In ihrer Welt sind Männer Könige und Frauen Mütter. Eine alte Welt voller Fehden, deren Anfänge fast niemand mehr kennt.

In der Kirche am Rand von Wellingborough, einer kleinen Stadt in der Mitte Englands, haben sie den Sarg des Königs vor dem Altar aufgebahrt. Echtes Gold, sagt Hughie Doherty, des Königs zweiter Sohn. Der Sarg schimmert, wie lackiertes Plastik schimmert. Gottes Haus ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Reporterin der Lokalzeitung ist da, sie wird von mehr als tausend Gästen schreiben, fünfhundert sind es sicher. Die Frauen haben ihre Haare aufgetürmt, falsche Wimpern angeklebt, die kürzesten Kleider und höchsten Schuhe angezogen. Daneben fleischige Kerle, manche in Anzug, viele in Jeans, ihre Haare triefen vor Gel.

Ganz vorn sitzen des Königs Töchter und Söhne, seine Frau, seine Enkelkinder. Sie alle tragen schwarze Anzüge, rote Krawatten, die Frauen rote Schleifen. Punk Girls steht darauf, nur auf Rhonas nicht: Punks Wife.

Handys klingeln, Babys schreien, schön dich zu sehen. Der Pfarrer redet unbeirrt, bis die Stimmen plötzlich lauter werden. Get out, rufen sie. Füße drängen Richtung Ausgang, es wird immer lauter. Frauen knicken weg, Männer drücken nach.

Get out, get out!

Während sich draußen Trauergäste hinter die halbhohen Hecken retten und sich die ersten jungen Männer kampfbereit die Jacken herunterreißen, ergreift Hughie in der Kirche das Mikrofon. Wer auf der Beerdigung meines Vaters kämpft, ruft er, der muss danach mit mir kämpfen. Es wird ruhiger.

Am Abend werden sie sich verschiedene Geschichten darüber erzählen. Ein dummer Streit zwischen zwei Cousins, die es einfach nicht gut sein lassen können, sagt Hughie. Sie hatten Waffen, das habe ich an ihren Augen gesehen, wird ein anderer berichten. Da fragt man nicht, erklärt ein Dritter. Ehre ist hier kein Wort, sondern ein Gefühl mitten in der Brust.

Langsam gehen die Gäste wieder in die Kirche zurück, am Eingang stehen jetzt Polizisten in neongelben Westen. Aus den Boxen schallt die Stimme des toten Königs, er singt. Er war der beste Sänger, sagen sie. Seine Söhne senken den Kopf, wischen sich über die Augen, verstecken die Tränen schnell hinter ihren Sonnenbrillen.

Als die Musik endet, versammeln sie sich um den goldenen Sarg. Up the punk! Hughie und seine Brüder schultern ihren Vater, tragen ihn heraus aus der Kirche, hinein in den Leichenwagen, ein silberner Rolls-Royce. Neun weitere stehen für die Familie bereit. Es läuft „Simply the Best“ von Tina Turner. Mein Vater war der Beste, also verdient er das Beste, sagt Hughie.

Hughie ist nicht der Erstgeborene und doch für viele der heimliche Thronfolger. Sie schlagen ihm auf die Schulter, gut, dass du für Ruhe gesorgt hast, you’re a peacemaker.

Es gab eine Zeit, in der Hughie Kämpfer war, in der ein Kinnbart sein rundes Gesicht kantiger wirken ließ, eine Zeit, in der er nicht so weich war. Zwar prügelt er sich nicht mehr durch Pubs, doch die Fehden dauern an. Die der Dohertys und der McGinleys, der Kampf, den Hughie nach 45 Minuten blutüberströmt verlor. Unfair, wie er sagt. Auch das brutalste Spiel hat Regeln. Der König rang ihm vor seinem Tod ein Versprechen ab: Kämpf noch einmal gegen Trevor, und dieses Mal gewinn! Heute kämpft Hughie mit der Trauer.

In seinen 36 Jahren waren sie nie lange getrennt. Seit mein Vater tot ist, sagt er, fühle ich mich schwach. Wenn sie den König begraben haben, wird sein Training beginnen.

Die Rolls-Royce führen den Autokorso zu König Francies Gestüt an. Haus, Pferdekoppel, auf dem Hof eine Telefonzelle, deren Rot jetzt Rost ist. Er wohnte hier schon lange nicht mehr. Früher zogen Pferde die Wagen der Traveller, noch heute leben viele Familien von der Zucht, und einige sind zu Millionären geworden. Jedes Jahr gibt es ein Pferderennen, King of the Road. Ghost, das Pferd von Francie, gewann das Rennen vier Mal. Jetzt müssen seine Söhne Ghost die Straße rauf und runter jagen, die Zuschauer jubeln. So macht man das, wenn ein König stirbt.

Seine letzte Ruhe findet der König in der Gypsy Lane. Direkt an der Straße, am Eingang der kleinen Siedlung, haben sie sein Grab ausgehoben, mit weißem Marmor ausgekleidet. Sie kommen in fünf Minuten, ruft eine blonde Polizistin, zu zwanzigst sichern sie die Straße. Zu hundert warten die Gäste, bringen Blumen ans Grab. Whiskyflasche und Teetasse, Francies Pick-up, eine Himmelspforte, eine Jukebox, die Irland-Flagge. Blumen gewordene Erinnerungen an ihren König.

Ein Dudelsack kündigt die Ankunft an, Hufe schlagen auf den Asphalt. Der Trauerzug kommt, zu Ross, zu Fuß. Acht Pferde reiten vorweg, tragen Kopfschmuck und Decken auf denen steht: Francie Doherty – The multitalented King. Er war der beste Reiter, sagen sie. Die Pferde ziehen eine Kutsche aus Gold und Glas, darin der Sarg, oben auf sitzt Hughie, etwas tiefer sein älterer Bruder Francie jr. Die anderen Brüder laufen daneben, eine Hand an der Kutsche, Rhona dahinter, sie umarmt das kalte Glas. Eine junge Frau filmt, sie überträgt live auf Facebook.

Francie „The Punk“ Doherty ist der erste König, der auf seinem Grundstück beerdigt wird, sagt Hughie. Früher hatten die Traveller kein Land, besaßen nur, was in ihre fahrenden Häuser passte. Ihre Toten beerdigten sie auf städtischen Friedhöfen, wo es gerade passte. In Wellingborough sind die Dohertys sesshaft geworden. Die Kinder gehen hier zur Schule, das ist neu. Hughie und seine Geschwister können kaum lesen oder schreiben. Das Grab des Vaters hier zu errichten, ist der Entschluss für immer zu bleiben.

Die Welt der Traveller verändert sich. Die Väter sagen, sie wollen, dass ihre Söhne ohne Kämpfe aufwachsen, ohne dieses große Gefühl in der Brust. Sie fragen sich, warum sie eigentlich nur untereinander heiraten dürfen, und ob der leere Thron besetzt werden muss. Hughie sieht das anders: Seine Söhne sollen kämpfen, seine Töchter einen Traveller heiraten. Und Dohertys brauchen einen König.

Wieder schultern sie den Sarg, Simply the Best, sie tragen den König zu Grabe. Über ihren Köpfen zieht ein Flugzeug ein Banner, darauf steht: Francie Doherty Number one Legend. Fucking great, huh?, sagt Hughie. Stirbt ein Traveller-Mann, machen sie ihn zum König. Stirbt ein Mann, der zu Lebzeiten schon König war, sprechen sie ihn heilig. Seine Beerdigung, sein Denkmal. Der Mensch glorifiziert den, der nicht mehr ist.

Wieder schallt die Stimme des Toten aus den Boxen. Hughie legt seinen Arm um die Schulter seines ältesten Sohnes, Francie. Wie der Vater, wie der Bruder, so sein Sohn. Alle drei Francies kamen an einem 12. Oktober auf die Welt, der Zufall macht es leicht, an Gott zu glauben. Hughie hält seinen Sohn, minutenlang starren sie in das Loch. Er nestelt die rote Krawatte auf, wirft sie ins Grab. Ein rotes Band nach dem anderen flattert auf den Sarg. Sie singen, „My Way“ und „Unchained Melody“, sie lassen weiße Tauben fliegen und goldene Herz-Luftballons. Dann lassen sie den König allein.

Das Horseshoe Inn, ein Pub mitten im Stadtzentrum, gehört heute den Travellern, Privatparty mit Sicherheitspersonal. In der Zeitung steht später, andere Pubs hätten früher geschlossen. Die Gypsies kommen.

Hughie trägt Jogginghose und ein Glas Rosé. Das Bier wird in großen Plastikbechern ausgeschenkt, es riecht wie auf der Weihnachtsfeier von Douglas. Wie immer: Die Frauen sitzen abseits, blicken in Handspiegel, maßregeln die Kinder, trinken hellblaue Flüssigkeit. Wir Männer haben schmutzige Gedanken, wir würden die Frauen damit bloß verderben, sagt Hughie. Up the punk!, rufen die anderen. An den Wänden hängen Fotos des Verstorbenen.

Die Kinder werfen Münzen durch den Hof, wer genauer zielt, gewinnt ein paar Pennys. Bis einer etwas über den toten König sagt, was einem anderen nicht passt. Sie werden laut, ziehen ihre kleinen Sakkos aus, ballen die Hände zu Fäusten. Die Größeren schlichten. Es ist die Beerdigung, zeigt etwas Respekt. Sie tragen die gleichen Fehden aus, spüren das gleiche große Gefühl in der Brust. Ehre ist erblich.

Am nächsten Mittag wird Hughie ins Krankenhaus gerufen. Während er seinen Rausch ausschlief, haben sich Steve und Joe geprügelt, sein Schwager und sein Cousin. Der eine muss im Krankenhaus bleiben, der andere hat bloß eine demolierte Nase. Es ist früher Nachmittag, des Königs Söhne, seine Neffen, sie alle sitzen im Pub. Sie haben Blutspritzer auf den Hemden, an den Kragen. Ein dummer Streit, sie können es einfach nicht lassen, sagt Hughie und sieht müde aus. Er, der Peacemaker. Der König ist tot, doch Hughie gab ihm ein Versprechen.