In Bielefeld steht Deutschlands größtes Seniorengefängnis. Wie ist es in Gefangenschaft, wenn man nicht mehr viel Leben übrig hat?
Sie stehen zwischen den Putzeimern. Der eine groß und ergraut, Lesebrille im beigefarbenen Polohemd-Ausschnitt, Robert Siwczyk heißt er, 61 Jahre. Der andere, Oliver Diest, klein, geduckt, neuer Mitbewohner des Großen. Siwczyk ist seit fast zwei Jahren hier, Diest seit einer Woche.
Zusammen bilden sie das Putzkommando, und heute sind die Duschen dran. Vier Waschbecken, vier Kabinen und der Boden. Siwczyk zeigt dem Neuen, wie man den Raum richtig putzt. „Hier musst du besonders drauf achten“, sagt er und deutet auf den äußeren Rand des Waschbeckens. Er wischt einmal schnell daran entlang und drückt dann Diest einen weißen Eimer und den Lappen in die Hand. „Wir sind eine ordentliche Abteilung“, sagt Siwczyk. „Wir wollen, dass das so bleibt.“
Gemeint ist Abteilung D des Hafthauses Senne, am Stadtrand von Bielefeld. Ein langer, heller Flur mit pinkfarbenen Türrahmen und orangefarbenen Türen. An jeder Seite des breiten Ganges sind Handläufe angebracht, sodass die Männer, die hier leben, Halt finden, wenn sie welchen brauchen. Und Halt brauchen sie häufiger mal. Abteilung D ist eine von zwei Etagen für „Lebensältere“, wie es im Justizdeutsch heißt. Für Senioren. 87 Plätze gibt es speziell für Gefangene ab 60 Jahren.
Das macht die Senne, wie das Gefängnis hier genannt wird, zur größten Haftanstalt für Senioren in Deutschland. Was hier seit 2013 praktiziert wird, ist eine Seltenheit. Nur fünf Bundesländer haben spezielle Abteilungen für alte Gefangene, im ganzen Land sind es 331 Plätze. Viel zu wenige: Im Dezember 2021 zählte das Justizministerium 2738 Gefangene über 60 Jahren. Es werden jedes Jahr mehr. In einer alternden Gesellschaft altern auch die Gefangenen.
Die alten Menschen werfen neue Fragen auf: Wie versorgt man sie im Gefängnis medizinisch? Wie bereitet man sie auf ein Leben nach der Haft vor, wenn davon vielleicht nur noch wenige Jahre bleiben? Und was, wenn sie so alt sind, dass schon eine fünfjährige Freiheitsstrafe lebenslang bedeuten kann?
„Wenn schon Knast, dann hier“, sagt Oliver Diest, der vor einer Woche reinkam.
„Ich könnte nicht in eine normale JVA“, sagt Josef Berg, der seit vier Jahren da ist.
„Woanders reden sie über ihre neuen Freundinnen, und wir reden hier eben über unsere Enkel“, sagt Robert Siwczyk.
Mit 61 Jahren ist Siwczyk einer der jüngeren Älteren. Weil er das Rentenalter noch nicht erreicht hat, muss er im Gefängnis arbeiten. Er reinigt die Duschen, die Küche, die Toiletten. „Hauptsache, man gibt mir keine Bohrmaschine“, sagt er. Weil eine JVA ein autarkes System sein soll, leben auch hier einige junge Gefangene. Sie arbeiten in der Tischlerei oder der Küche, und sie sollen voneinander profitieren: die Alten nicht völlig den Bezug zum Heute verlieren, die Jungen ruhiger werden durch die Gemächlichkeit der Alten.
Senioren seien im normalen Gefängnis ganz unten in der Hierarchie, sagt die Anstaltsleiterin. Auch deshalb existiert die Senne. Hier gibt es keine halb so alten, aber doppelt so breiten Stiernacken, die Schwächere bei Gelegenheit erpressen. So wie Jugendliche und Frauen mit eigenen Gefängnissen geschützt werden, schützt ein Knast wie die Senne die Alten.
Als Robert Siwczyk in seine Zelle bittet, ist es kurz nach elf Uhr am Mittag und sein Arbeitstag schon zur Hälfte vorbei. Auf dem kleinen Tisch in der Mitte eine abwaschbare Tischdecke, vor den großen Fenstern große Pflanzen. Die Sonne scheint ins Zimmer, Gitter gibt es nicht. Nur an der Balkontür hängt ein Schloss. Früher durften sie raus, aber dann flogen Zigaretten, Gefangene pfiffen Frauen hinterher.
Den feinen Zaun, der das Gelände umgibt, sieht man erst auf den zweiten Blick. Die Senne ist eine Anstalt des offenen Vollzugs. Die Häftlinge dürfen das Gefängnis für einige Stunden, irgendwann auch für einige Tage verlassen. Nicht die Haftstrafe entscheidet, wer in den offenen und wer in den geschlossenen Vollzug kommt, sondern ob Flucht- oder die Gefahr weiterer Straftaten besteht. Einige Häftlinge verbringen ihre Sicherungsverwahrung im offenen Vollzug.
Bevor er nach Senne kam, arbeitete Siwczyk in der Finanzbranche. Er lebte in Bottrop und hatte ein großes Unternehmen. „So was wie AWD von Carsten Maschmeyer.“ Er arbeitete viel, 70 Stunden die Woche. Bis in der Firma einiges schief lief. Wirtschaftsdelikte kommen in der Senne öfter vor. Männer, die ihr Lebenswerk retten wollen, koste es, was es wolle. Siwczyk wurde wegen diverser Wirtschaftsdelikte zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. „Ich habe einen Fehler gemacht“, sagt er, „und dazu stehe ich auch.“ Ende Oktober 2020 ging er mit fast 60 Jahren ins Gefängnis.