Frau Radix hat die Lösung

Im ganzen Land kündigen Pfleger und Ärztinnen, ausgelaugt und allein gelassen. Doch in den Krankenhäusern von Ulrike Radix bleiben die Leute. So könnte es überall sein.

ZEIT ONLINE, Ressort X, 29.11.2021


Ulrike Radix beugt sich auf ihrem Stuhl nach vorne und sieht die junge Frau ihr gegenüber genau an: „Wir halten fest: Heute willst du dich nicht umbringen?“ Kopfschütteln. „Dann machen wir jetzt einen Plan.“

Ulrike Radix steht auf, geht zur Wand und notiert „Terminservice  auf dem Whiteboard an der Wand. „Wann rufst du da an?“, fragt sie.“Heute“, sagt die junge Frau leise. „Heute“, notiert Ulrike Radix.

Die junge Frau, die in diesem Text Alice heißen wird, ist Pflegeschülerin, in einem Jahr will sie ihr Examen als Krankenpflegerin machen. Um kurz nach elf gestern Abend rief sie Ulrike Radix an. Alles ist zu viel, alles soll vorbei sein. Ob sie Suizidabsichten habe, fragte Ulrike Radix am Telefon. Wenn ich dir das sage, weist du mich ein, war die Antwort. Dafür hat Ulrike Radix ihr dieses Treffen abgerungen.

Jetzt sitzt Alice an dem kleinen Tisch, auf dem eine Kirschblütentischdecke liegt und ein Glas mit Merci-Schokolade steht. Ihre Finger nesteln an einem benutzten Taschentuch, sie schnieft leise, während Ulrike Radix den Plan notiert. Beim Terminservice der kassenärztlichen Vereinigung anrufen und ein Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten vereinbaren. Zum Neurologen gehen und ein Rezept für Antidepressiva holen. Mit der Berufsschule sprechen, weil sie im Theorieunterricht zu oft gefehlt hat.

„Darf ich noch arbeiten, wenn ich mich so fühle?“, fragt Alice zögerlich.“Natürlich. Du bist nicht die Erste“, sagt Ulrike Radix. Dann setzt sie sich wieder vor sie. „Wenn du tot bist, gibt es kein anderes Leben. Die Schritte machen wir auf jeden Fall. Deal?“ Sie geben sich die Hand.

„Ich habe solche Angst, mich krank zu melden“, sagt Alice. „Aber ich halte das nicht aus. Diese Station. Die Patienten schellen, damit ich das Fenster öffne. Damit ich ihnen Wasser bringe. Ich bin doch kein Dienstmädchen. Aber ich kann die Kollegen doch auch nicht alleine lassen.“Ulrike Radix greift den Telefonhörer und wählt eine Nummer. „Radix! Alice müsste gleich zur Schicht erscheinen. Sie kommt heute einmal nicht … Ja, schwer belastet … Ja, wirklich nicht gut … Hm … Heißt das, du kriegst keinen zweiten?“ Sie blickt auf und schaut Alice an: „Du musst.““Alles gut“, sagt Alice. „Ok. Sie kommt gleich.“ Dann legt Ulrike Radix auf. „Sie sagt, sie hat keinen.““Alles gut“, sagt Alice noch mal.“Wie geht es dir jetzt?““Kaputt.“

Alice wirft das Taschentuch in den Müll, blinzelt die letzten Tränen weg und greift sich ihre Handtasche. Zusammen fahren sie mit dem Aufzug ins Erdgeschoss, am Raucherpilz neben der Kantine trennen sie sich. Es ist kurz vor 13 Uhr, Alices Spätschicht beginnt gleich. Wenig später, beim Mittagessen bekommt Ulrike Radix eine SMS: Ich habe jemanden. Die Stationsleitung kann Alice doch nach Hause schicken.

Ulrike Radix ist Krankenhausseelsorgerin im evangelischen Krankenhaus in Oberhausen und in Mülheim, acht Kilometer entfernt. 1.100 Betten insgesamt, 1.800 Pflegekräfte. Als sie vor sechs Jahren begann im Krankenhaus zu arbeiten, sollte sie sich vor allem um die Patienten und deren Angehörige kümmern. Sie saß neben der Mutter, deren Kind kurz nach der Geburt auf der Frühchenstation starb oder neben der Frau, die erfuhr, dass die Reanimation ihres 16-jährigen Sohnes nicht erfolgreich war. Sie wartete vor Schockräumen und in der Notaufnahme, sie hörte letzte Worte und sprach letzten Segen. Sie öffnete Fenster, damit die Seele entweichen kann, so nennt sie es. Sie half, wo Ärztinnen und Pfleger nicht helfen konnten. Und merkte, dass man sich in einem Krankenhaus nicht bloß um die Patienten und deren Angehörige kümmern muss, sondern auch um die Menschen, die dort arbeiten.

Krankenhäuser sind eine jener Institutionen, mit denen man nicht in Kontakt kommen will. So wie die Polizei oder die Feuerwehr. Beruhigend, dass es sie gibt, beunruhigend, wenn man sie braucht. Niemand möchte wissen, dass die OP-Krankenschwester, die bei der eigenen Operation dabei ist, seit zehn Stunden steht oder dass die Ärztin aus der Notaufnahme diese Woche schon 50 Stunden gearbeitet hat. Niemand möchte wissen, dass eine einzige Pflegekraft nachts allein für 22 Patienten auf der kardiologischen Station verantwortlich ist.

Eine deutsche Pflegekraft ist laut Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse im Schnitt 22 Tage pro Jahr krankgeschrieben, das sind sechs Tage mehr als in allen anderen Berufen. Der Grund für die meisten Fehltage: eine depressive Episode. Ärzte erkranken viermal so häufig an einer posttraumatischen Belastungsstörung wie der Rest der Bevölkerung. All diese Zahlen waren lange vor der Pandemie bekannt. Auch, dass Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen das Krankenhaus im Schnitt nach zwölf Jahren verlassen. Sie wechseln nicht den Arbeitgeber, sie wechseln den Beruf.

Kaum jemand scheint sich darüber zu wundern. Es wird angenommen, dass man das so hinnehmen muss: ein harter Job, ein hoher Verschleiß. Da kann man nichts machen. Und dann die Pandemie. Nach der Infektionswelle kommt die Kündigungswelle. 5.000 Intensivbetten gibt es heute weniger als im Oktober 2020. Die Betten müssen gesperrt werden, weil die Intensivpflegekräfte fehlen. Allein nach der ersten Welle kündigten laut Bundesagentur für Arbeit über 5.000 Krankenpfleger. Jede dritte Pflegekraft denkt darüber nach, den Job zu wechseln. Alle verstehen das.

Aber kaum jemand versteht: Das hätte nicht passieren müssen.

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